Settima edizione 2013 • vincitore sezione inediti

Anna und die Marionetten

Gianfranco Mattera

Gianfranco Mattera

Ich bin am 12.08.1975 auf Ischia geboren, der größten der drei Inseln im neapolitanischen Archipel. Meine erste Grenze ist das Meer gewesen: schön, blau, kristallklar, aber auch stürmisch, unberechenbar, von Winden gepeitscht. Als es mir schließlich gelang, die Kopfhörer auf die Geräusche der Welt zu richten, landete ich auf dem „Kontinent”, in Neapel, wo ich mich als Streetworker auf die Wiedersozialisierung von Drogenabhängigen spezialisiert habe. Dann hat mich der Zufall, das Schicksal oder ein eiserner Wille bis ins Trentino geführt, wo ich seit neun Jahren wohne. Ich arbeite im sozialen Bereich. Ich habe eine kleine Tochter, die schönste Erzählung, die ich je geschrieben habe…

BegrÜndung der Jury

Die Erzählung Anna und die Marionetten geht ein schmerzhaftes Thema an, das kaum mehr als vegetative Leben derjenigen, die schwere Hirnschäden erlitten haben, aber sie tut es mit großer Einfühlsamkeit und mit einem trockenen, poetischen Stil. Der Ich-Erzähler besucht jeden Tag seinen Zwillingsbruder, der hirngeschädigt und seinem Ende nahe ist. Im Institut, in dem er untergebracht ist, gibt es andere Marionetten wie er, mit unbeweglichen Körpern, die Glieder steif wie Holzstücke. Zusammen mit ihnen gibt es dort auch Anna, ein zweiundzwanzigjähriges Mädchen, das an einer angeborenen, stark entkräftenden Krankheit leidet, und die es jedoch schafft, wenigstens auf den Knien zu kriechen. Und die vor allem lächelt, fortwährend. Indem er sich um sie kümmert und in ihre Augen ein bisschen blau, ein bisschen grün, wie das Meer blickt, scheint der Erzähler schließlich einen Sinn im Nicht-Sinn der Krankheit und des Todes gefunden zu haben, und lernt, wie wenig man braucht, um glücklich zu sein.

IL RACCONTO

Seit zwanzig Jahren schaue ich ihn jeden Tag an und warte auf die Bewegung eines Arms,
einer Hand
eines Fingers
eines Muskels.

Ein Zittern.

Das Kopfnicken.

Ein Geräusch.

Etwas anderes außer dem Mund und den schwarzen, aufgerissenen Augen, das ihn lebendig erscheinen lässt.

***

Vielleicht ist es nur ein Wunschdenken meinerseits, dass er sich bewegt,
und sich ausdrückt    
und redet
und mir alles sagt, was ich von ihm hören möchte.

Ich sollte aufhören zu hoffen, mich in Gedanken und absurden Träumen zu verlieren.

Leider weiß ich nur allzu gut, wer mein Bruder ist,
mein Zwilling.

Welches sein Urteil ist.

Was das Schicksal für ihn bereitgehalten hat.

Von Geburt an.

     
***

Auch heute Morgen befindet er sich mir gegenüber. Liegend auf der Matratze des Refektoriums im Zentrum für Menschen mit Hirnschäden.
Zusammen mit den anderen Patienten.

Alle steif.

Unbeweglich.

Schlummernd. Als ob sie schliefen. Einen ewigen Schlaf. Mit Schaum auf den Lippen und den Blick fest gerichtet auf das Licht der Neonleuchten und auf die weißen Wände.

In vollkommenster Stille.

***

Ich weiß nicht, ob das, was ich fühle, richtig oder falsch ist: Jedesmal, wenn sich unsere Blicke kreuzen habe ich das Gefühl, mich dreizehn Augenpaaren gegenüber zu befinden, die erloschen sind,
schwach schimmernd,
verloren,

dreizehn Anhäufungen länglicher, unproportionierter Knochen
dreizehn Haufen kranker, unregelmäßiger, halbfunktioneller Organe
dreizehn schiefen Mündern
dreizehn stummen Stimmen

dreizehn flachen EKGs

inklusive mein Bruder,

plus Anna.

***

Anna ist die einzige, die es schafft, auf den Knien zu kriechen.

Ein Meter dreiunddreißig Zentimeter,
blonde Haare mit Ponyfransen,
vierundvierzig Kilo,
die Augen ein bisschen blau, ein bisschen grün, wie das Meer, zweiundzwanzig Jahre.

Sie leidet an einer angeborenen Schilddrüsenüberfunktion. Zwergwuchs, Stummheit, mentale und hormonelle Dysfunktionen sind die Folge. Für sie haben Dinge wie sich fortbewegen, verstehen, zuhören, wahrnehmen, tasten, riechen allem Anschein nach eine relative Bedeutung.

Doch Anna lächelt.
Fortwährend.
Sie lächelt denjenigen zu, die es am wenigsten erwarten, die ihr Aufmerksamkeit zukommen lassen, die sie streicheln, die ihr etwas von ihrer Zeit widmen.

***

So ist es.

Die nackte Wahrheit.

Mehr als mein Bruder und die anderen ist Anna für mich Schmerz.

Hände,
Arme,
Schultern,
Füße,
Beine,
Finger,
Kopf,
Stirn,
Brust,
Bauch,
Becken,
innere Organe.

Alles!

Schmerz.

***

Ihr Lächeln bereitet mir Unbehagen. Ihre Lebensfreude. Die Freude, die sie ausdrückt, wenn sie mich trifft und grüßt und ich begreife, dass sie eine Umarmung von mir will.

Ich weiß nie, was ich tun soll. Wie ich reagieren soll.
Ob ich flüchten soll.
Weg.
Weit weg.
Soweit weg wie möglich.
Oder mich zusammen mit ihr einfach hingeben und diese Augenblicke verstreichen lassen soll, in denen Anna gewissermaßen von einem Hauch von Unschuld umgeben ist.

Ich will mich nicht von ihr anstecken lassen. Worin läge der Sinn? Nicht hier drin. Man kann nicht. Unmöglich, es zu akzeptieren.
Ich darf nicht!

Für mich. Für meinen Bruder, für die anderen…

***

Es passiert oft, nachts.
Auf einmal das Feuer. Ein Knoten im Hals. Das Ringen nach Luft. Für unendliche Augenblicke, Sekunden, die sich überschlagen, Minuten.
Augenblicke, in denen ich um mich schlage.
Die Kontrolle über meinen Körper verliere.
Steif werde.
Zittere.
Fast ersticke.

Dasselbe passiert auch meinem Bruder. Ich weiß es mit Sicherheit.

Es ist wegen der Epilepsie,
des Wassers in den Lungen,
des zu klein geratenen Herzens,

der kurzen Zeit, die ihm zu leben bleibt.

***

Einer in zweien.

Das sind wir.

Ein krummer Ast. Ein gesunder, zumindest oberflächlich.

***

Ich habe es mir in der Vergangenheit nie gewünscht. Ich wünschte, dass die Zeit stehen bliebe.
Keine Klänge, Worte, Gedanken.
Nichts und noch einmal nichts.
Einschlafen.

Nie mehr aufwachen.

Leblos.
Auch ich wie mein Bruder,
Marionette, wie die anderen.

***

Oft helfe ich den Schwestern des Zentrums. Heute soll ich einen Mann waschen und ihm die Windeln wechseln.

Sein Name? Ich habe ihn vergessen.

Das künstliche Licht.
die Toiletten
der Wickeltisch
der Schlafanzug
die Flüssigseife
das Handtuch
das fließende Wasser
die Windeln
der unwiderstehliche Gestank der Exkremente.

Daran gewöhnt man sich nie, genauso wenig wie an das Gefühl, zwischen den Händen Holzstücke zu spüren, die menschliche Wärme ausstrahlen.

***

Es ist vor ein paar Monaten geschehen.
Ich habe versucht, mich aufs Bett zu legen und regungslos zu bleiben.

Der Hals steif,
die Arme entlang dem Körper,
der Bauch flach,
die Atmung regelmäßig,
die Nase nach oben.

Einen ganzen Tag hatte ich mein Bruder sein wollen. An seiner Stelle sein. Luft, in einen Behälter aus Fleisch und Knochen gezwängt.

Es gab kein Geräusch, noch Rufe noch Schreie noch Weinen noch anderes, das mich hätte ablenken können.
Es gab nichts.
Nur meine Gedanken, und mein Ringen mit ihnen.

Dann habe ich es nicht mehr geschafft: ich habe mir vor Angst in die Hose gemacht.
Ich bin aufgestanden, besiegt, nach nicht einmal ein paar Stunden.

Ich habe geweint.

***

Mein Vater und meine Mutter
Die Bücher
Das Studium
Die Freunde
Die Mädchen
Ein Sonnenstrahl auf der Haut
Eine Brise Wind
Die Stille der Schneeflocken, wenn sie fallen
Die Farbe des Laubes im Herbst
Eine Blume, die sich öffnet
Das Schnurren einer Katze
Der Regenbogen nach dem Regen
Ein Spaziergang in den Bergen
Ein Lied im Radio
Ein Glas Wein
Ein Teller Knödel
Ein Stück Schokotorte
Ein nie mitgeteilter Traum, der wahr wird

Nichts von alledem interessiert mich. Einzig der Wunsch, mich von der Last, die mich durchdringt, zu befreien.

Innerlich.

***

Es geht darum, dass ich mich nicht frei fühle, auszugehen und die anderen Menschen zu treffen. Die normalen Menschen. Diejenigen, die leben. Diejenigen, die nicht in einem Köper aus Pappmaché gefangen sind oder in vier Wänden, oder in ihren Warums, wie es mir geschieht.

Warum ist es meinem Bruder widerfahren? Warum ihm. Warum nicht mir. Warum nicht jemand anderem. Warum niemandem.

Wer spannt die Fäden? Wer hat es entschieden? Welcher Gott. Mit welchem Recht. Zu welchem Zweck.

Warum.

Warum!

***

Ich bin in die Kirche gegangen.

Ich habe mich nicht hingekniet.
Ich habe nicht gebetet.
Ich habe nicht einmal geschaut, wer oder was sich neben mir befindet.
Ich habe mich einfach hingesetzt und habe dabei jede Zerstreuung, Person und momentgebundenen Mystizismus von mir fern gehalten.

Aus irgendeinem unerklärlichen Grund hatte ich Anna in meinen Augen. Im Herzen. Nicht die anderen geistig Behinderten. Nicht meinen Bruder. Nicht mein Leben.  

Nur sie.

Ihr Licht.

***

Ich habe mich gehen lassen, ein einziges Mal. Bevor ich ins Zentrum ging, bin ich bei einem Spielwarenladen vorbeigegangen. Ich habe ihr einen kleinen Stoffbären geholt. Braun, dicklich, mit ganz weichen Ohren.
Anna hat ihn genau begutachtet. Von oben, von unten, von den Seiten. Etwas überrascht.
Sie hat den ganzen Vormittag damit gespielt. Sie hat ihn an die Brust gedrückt, gehätschelt, wie ein Kind. Sie hat ihre Freude darübergesabbert.
Dann ist sie eingeschlafen,
müde,
in meinen Armen.

Ich habe ihrem Atem gelauscht. Mich an ihrer Wärme erfreut. Die ganze Zeit lang.
Ich habe mich wohl gefühlt. Als ob so wenig genügen würde, um glücklich zu sein.

***

Es war nicht nötig, abzuwarten, dass die Ärzte anrufen würden, um die Nachricht mitzuteilen.

Ich wusste es auch so.
Von den letzten schlaflosen Nächten.
Von den nicht aufhören wollenden Spasmen.
Von den Hustenattacken.

Die Stunde ist gekommen.

***

Ich war im Badezimmer, als es passiert ist. Damit beschäftigt zu schauen, was von meinem Gesicht der Spiegel reflektiert.
Plötzlich ein komisches Zittern in den Beinen. Die Knie, die nachgeben. Eine Schlucht im Magen. Eine unbeschreibliche Müdigkeit.
Ich bin zu Boden gefallen, atemlos.

Der schwere Himmel
Die trüben Sterne
Eine Mondsichel in der Ferne
Die Leere in mir.

So ist er, der Tod.

***

Nach einigen Tagen bin ich zum Zentrum zurückgekehrt. Einen raschen Blick auf die Matratze meines Bruders.
frei, in Erwartung eines neuen Gastes.

Ohne es überhaupt zu merken, bin ich sofort zu Anna gelaufen.
Ich habe sie umarmt.
Sie hat gelächelt.
Ich habe auch gelächelt.
Dann habe ich mich in ihren Augen verloren, etwas blau, etwas grün, wie das Meer.