Settima edizione 2013 • secondo classificato sezione inediti

Und Armando hielt die Augen geschlossen

Rocco Meloni

Rocco Meloni

Rocco Meloni ist 1989 in Rovereto geboren und hat, bis auf ein Zeitraum von drei Jahren, in denen er aus Studiengründen in Trient gelebt hat, fast sein ganzes Leben lang in Dro gewohnt. Er hat sein Abitur am naturwissenschaftlichen Gymnasium Maffei in Riva del Garda gemacht und an der Universität Trient ein Diplom in Modernen Literaturwissenschaften erworben. Er hat viele Jahre in der lokalen Mannschaft Fußball gespielt. Gemeinsam mit anderen jungen Menschen hat er den Verein „Richiedenti Terra" in Trient und den „Gemeinschaftsgemüsegarten" (Orto comunitario) in Villazzano ins Leben gerufen und interessiert sich sehr für die Idee eines gemeinschaftlichen Lebens in Kontakt mit der Natur. Er hat einige Jahre einen sozialen Buchladen mit einem kleinen Kulturverein betrieben. Von klein auf schreibt er aus Leidenschaft und widmet sich dabei Erzählungen und Gedichten. Im letzten August hat er eine wunderschöne Fahrradtour auf dem Balkan – von Slowenien nach Albanien – unternommen, worüber er nun versucht, eine Erzählung zu schreiben. Er ist außerdem einmal mit dem Wohnmobil die Apenninen bis zur Meerenge von Messina mit langsamer Geschwindigkeit hinuntergefahren (zu dieser Reise gibt es einen Beitrag auf einem Internet-Blog).

BegrÜndung der Jury

Und Armando hielt die Augen geschlossen. Dieser elfsilbige Vers betitelt und betont rhythmisch eine Introspektion, die es vermag, kraftvolle Blitze nach außen hin zu projizieren. Durch die Spalte seiner geschlossenen Augen beobachtet Armando die Welt, das kleine verfallene Dorf, wo er als Kind rumgekrabbelt war, den Platz, der mit wenigen Zähnen ein antikes Lächeln [lächelte], oder [...] überhaupt nicht [lächelte], obwohl die Sonne ihn im Himmel reflektierte und sich dabei zwischen die Häuser einfädelte. Im Zentrum dieses Mikrokosmos, in dem nichts zu geschehen scheint, befindet sich er, Armando, ein einsamer Junge, isoliert von allem (die Mutter ist krank, der Vater schon seit immer weit weg, und Armando hält nicht nur die Augen geschlossen, sondern schirmt auch seine Ohren ab, indem er sie in die heißgeliebten elektronischen Sounds taucht). Dem naturalistischen und zugleich poetischen Blick des Hauptdarstellers steht sein Versuch entgegen, aus sich selbst herauszugehen, fremden Menschen, der Welt zu begegnen. Diese mit Melancholie durchtränkte Erzählung hält sich auf dem gespannten und luziden Seil einer aufmerksamen, reifen, für die Zukunft vielversprechenden Schreibfähigkeit aufrecht.

IL RACCONTO

Armando hielt die Augen geschlossen, mit seinen unklaren, konfusen fünfundzwanzig Jahren. Verloren in seinem feuchten Gehirn, durch die trockenen Lippen, dachte er über jene wenigen Worte nach, die ihm seine Mutter gesagt hatte, die wenigen Male, die er sie im Krankenhaus besucht hatte. Er dachte an jene müden Korridore, die nach Chloroform stanken; ein Geruch, den er im Innersten seines Herzens als gar nicht so schlecht empfand. Nur durchdringend und geräuschlos, auf der Haut und auf den Kleidern. Er dachte an das Morphium, das sie seiner Mutter gaben, um sie zuzudröhnen, wenn sie ihn mit stumpfen Blick anschaute und sie sich nicht verstanden. Morphium ist nichts Besonderes, dachte er. Als er es probiert hatte, war er nicht zufrieden gewesen, er hatte lediglich gemerkt, dass er sich in seinem dumm und unverfroren Sein sehr glücklich fühlte und der Welt gegenüber gleichgültig. Eine unmäßige Dosis, dieselbe, die sie wahrscheinlich seiner Mutter verabreicht hatten. So gleichgültig auch der Welt gegenüber, mit der Würde, die Terminalkranke vermitteln, benommen zwischen der Droge, die sie verstummen lässt, und dem sich Bewusstwerden über das Ende der Welt.
Aber in diesem ganzen langsamen Denkfluss waren es nicht jene Bilder, die ihn verstörten. Er, der zwischen einer sedierten und obszönen Freude auf der einen Seite und einer pulsierenden und unzähmbaren Angst auf der anderen hin und her schwankte, fand in seinen eigenen Worten, auf Dialekt ausgesprochen und in einem Italienisch voller grammatikalischer Fehler im räumlichen Mikrokosmos, der ihn umgab, ironischerweise einen Lebensgrund. Ein Lebensgrund, das waren eine Dorfgasse, ein Zimmer, das ununterbrochene Schlagen der Klangwellen gegen seine betäubten und schon gewöhnten Trommelfelle. Elektronisch.
Er ging von hier nach da, sicher, reibungslos. Dann nahm er den Bus, eine Reise für wenige Münzen, und stieg vom Tal in die Stadt hinab, mit wenig Geld in der Tasche, er kaufte und verkaufte Stoff, er zog sich wahllos alles rein, was ihm in die Hände kam. All dies bei seinen Freunden. Und dann ging er zu Rave-Partys, er nahm auch den Zug dafür, unbedingt ohne Fahrkarte, in der Toilette eingeschlossen, um dem Schaffner zu entkommen; wenn er nicht ohnehin schon dort war, um zu kotzen. Oder wenn er nicht sowieso schon im Waggon eingenickt war, mit dem schlafenden Gesicht gegen die Abteildecke eines Regionalzuges gerichtet. Er nahm an Raves teil, einer der Gründe, die seinen Schritten auf dieser Welt einen Sinn gaben.
Und Armando hielt die Augen geschlossen, auf die Landschaft. Halbgeschlossen auf ein steiles Tal, mit einem kleinen Weg, der es in der Mitte durchquerte, wie ein Bächlein. Das geschah nur, wenn er hinter den Fensterläden hervortrat, die ihn im Halbdunkeln ließen.   
Es gab keine Zukunft in dieser Gegend, in seinem Herzen und in seinem Magen. Der gute Duft des Frühlings, der penetrierende Gestank von Innenräumen, die auf sich selbst angewiesen waren.
Es gab keine Zukunft in dieser Gegend, in jenem leeren Platz eines Dorfes, das allmählich ins Alter überglitt, und danach in den Tod. Die frischesten Jahrgänge waren auf der Flucht, schon seit vielen Jahren. Der Platz lächelte mit wenigen Zähnen ein antikes Lächeln, oder lächelte überhaupt nicht, obwohl die Sonne ihn im Himmel reflektierte und sich dabei zwischen die Häuser einfädelte. Die Almhütten im Ruhestand, einige Kühe der wenigen Menschen, die noch an den Wäldern und an den Wiesen hingen.
Im Dorf kannte man ihn, Armando, seit er als Kind die ersten Schritte auf genau demselben Platz  gemacht hatte. Wo er zurzeit stundenlang verweilte und die Pflastersteine mit fixem Blick anstarrte, mit Musik in den Ohren. Sein Vater, am anderen Ende Italiens, zahlte nicht mehr für seinen Unterhalt, mit ziemlich entrüsteter Haltung.
Es gab keine Zukunft in dieser Gegend, das wussten viele. In der anderen Ecke des Platzes gab es andere Schatten, die andere sarkastische Schicksale verkörperten. Menschen, die das Meer auf Nussschalen überquert hatten, um sich hier in einem zeitlichen Limbus wiederzufinden.
Armando wusste, dass ein humanitäres Projekt sie dort hochgeschickt hatte, neunhundert Meter über dem Meeresspiegel. Sie waren eines Tages mit einem Lieferwagen des Zivilschutzvereins angekommen, an einem Tag identisch wie die anderen. Es wurde ihnen die Wagentür geöffnet, ein Herr hatte sie begleitet, dann war der Wagen in der Stille des Dorfplatzes wieder abgefahren. Der Junge, auf der Bank sitzend, hatte die Szene beobachtet. Er hatte sich nichts gefragt, die Dorfältesten hatten eine kleine Gruppe in der anderen Ecke gebildet. Er hatte gespürt, dass er ewig dort hätte bleiben können, während das Bild von sich und der Welt unscharf von seinem Gehirn weggewischt wurde. Dabei gedankenverloren über jenes ungewöhnliche Schauspiel philosophierend, das ihm nicht gehörte.
Sie hatten dunkle Haut, ihre Köpfe blickten aus gestreiften T-Shirts und Sporthosen hervor. Sie waren also wie er gekleidet. Ein eigenartiger Horizont von Viechern und Schatten hatte sein Blickfeld durchquert, seine schiefe Laune drückte ihm gegen die Schläfen wie eine Würgschraube. Körper, die über Stunden hinweg wenige Meter von Armando entfernt gesessen hatten, eine Kluft dazwischen. Der Junge dachte, dass es so aussehe, als warteten sie auf einen Bus, in den sie nie einsteigen würden. Die Hände an die Brust gedrückt, beobachteten sie stundenlang stumm die umliegenden Häuser mit verlorenem Blick. Immer wieder dieselben Häuser. Dieselben gleichen, identischen, unverwechselbaren Häuser, die auch der Junge jeden Tag sah und die sich keinen Zentimeter bewegt hatten, seit er selbst geboren war.
Er dachte, dass sie nicht wie Statuen aussahen, nein. Weil sie atmeten, weil sie ab und zu den Kopf bewegten. Er dachte, dass es schönere Dinge zu tun gab als stundenlang still sitzen und nichts tun. Gerade er, der an jenen Tagen seinen Hintern nicht von seinem unschlüssigen Fleck gerührt hatte, unbeweglich, mit den Augen in den Boden gebohrt und dem Kopf, der ihm schwankte.
Er dachte, dass auf der anderen Seite des Platzes die Alten standen; er konnte es lediglich denken, da er ihre Umrisse ausmachte, die die üblichen Dimensionen aufwiesen. Ihre Namen waren ihm auf der letzten Party verloren gegangen, auf der vorletzten, oder vielleicht hatte er sie nie gelernt. Er dachte, dass, seit jene dunklen Jungs da waren, sie einfach hätten verschwinden können. Oder, dass man das ganze Dorf, das ganze Tal, die ganze Provinz hätte einpacken und in einen Papierkorb werfen können.
Die Tage waren stehengeblieben, und er pendelte mit dem Kopf, unlustig bis zum Hals in die Musik getaucht. Früher oder später würde er wieder in die Ebene hinabsteigen und nach etwas suchen. Nach den Tagen suchen. Tagen, die keinen Sinn hatte sie so zu nennen.

Wenn er zurückkehrte, wenige Schritte zur Rechten, waren die Jungs, die dunklen, noch immer da. Er streifte sie mit einem Kopfnicken. Der Name des Dorfes war ein unaussprechlicher Name im dialektgeprägten Gehirn der Einwohner. Der Eingang statuierte schwarz auf weiß einen anderen, vom Staat festgelegten Namen.
Sie standen dort, die Schwarzen, auch sie unaussprechlich. Sie standen auf dem Platz, wenn die Laternen angingen. Sie standen auf dem Platz, morgens, bevor jemand anderes dorthin kam. Sie standen einfach da. Und niemand redete, niemand redete mit ihnen. Der Zeitungskiosk im Dorf wurde geschlossen, den Tabak brachte ein Junge dahin, der einmal die Woche mit dem Auto hochfuhr. Mit den Zeitungen.
An einem verregneten Nachmittag ging er aus dem Haus, Armando. Ohne Jacke, mit kurzer Hose, die Kopfhörer an den Ohren. Er hatte es kaum bemerkt, oder nur flüchtig, dass es vom Himmel in Strömen regnete. Er hatte die menschenleeren Gassen durchquert, mit dem Abwasser, das die Straßen hinunterfloss. Und bei diesem Hundewetter hatte er sie einmal mehr dort angetroffen, noch immer dort sitzend. An denselben Plätzen, triefend nass. Wie sie vor sich hin schauten. Jenseits des Dorfes, jenseits der Landschaft.
Er hatte seinen Gang unterbrochen. Er stand, mit patschnassen Haaren. Er war stehen geblieben, um sie zu beobachten. Ihre verdrehten, müden und vage ausdrucksstarken Augen auf ihn gerichtet. Der lächelte, aber nicht zu denken vermochte. Sie blieben gut zehn Minuten so stehen, unbeweglich wie an den anderen Nachmittagen. Woher sie kamen war etwas ziemlich Rätselhaftes, warum sie gerade dort gelandet waren, war eine noch ganz andere Sache. Einfache Fragen, die auf der Zunge rumhüpfen, wenn diese nicht durch eine schlaflose und konturlose Nacht verklebt ist.
Er richtete schließlich einen Daumen nach oben, mit einer entschlossenen Geste, mit den Augenlidern, die sich langsam um wenige Millimeter weiter öffneten. Er hob den Daumen und behielt ihn ausgestreckt. Als wolle er ein Auto anhalten. Er suchte in der verstaubten Gerätekammer seines Gehirns nach einem Gedanken.
Dann sagte er das einzige Wort auf Englisch, das er auftreiben konnte. Yes. Guttural, tief. Yes. Ein wiederholter Klang, zwei, drei Mal. Der Anfang eines Loops, der schon beim Entstehen unterbrochen wurde. Niemand war verwundert, niemand von ihnen. Sie schauten. Derjenige, der links saß, machte eine winzig kleine Geste, dann lächelte er unbemerkt. Yes. Dann verlor der Junge die Orientierung, er vergaß. Er guckte auf den nassen Zement.

Er nahm seinen Spaziergang wieder auf. Viecher und andere Figuren, die hinter seinen Schultern zurückblieben.