Sesta edizione 2011 • terzo classificato sezione inediti

Auf dem campingplatz ohne meer

Paola Cereda

L'autore

Psychologin, ist spezialisiert auf internationale Zusammenarbeit und Menschenrechte. Sie arbeitete im Theater mit Moni Ovadia als Regieassistentin und hat Erfahrungen im sozialen Bereich, in verschiedenen Ländern der Welt gesammelt, unter diesen waren Ägypten, Kolumbien, Argentinien, Spanien und Rumänien. Sie schreibt Erzählungen und publizierte den Roman "Della vita di Alfredo", der unter anderem das Finale des Wettbewerbes Calvino 2009 erreichte. Aktuell residiert sie in Turin und arbeitet mit ASAI (Verein der Internationalen Animation) zusammen, wo sie diverse Theater- und Kunstprojekte mit jungen ItalienerInnen und MigrantInnen realisiert.

BegrÜndung der Jury

Der Campingplatz ohne Meer, der den Hintergrund für diese Erzählung darstellt, ist ein Zigeunerlager am Ufer der Stura, im Piemont. Es ist ein Ort, an dem Menschen mit außergewöhnlichen Namen wohnen (Sterling, Ionica…), wo man an der frischen Luft lebt, wo die Wände der Wohnwagen und die der Bungalows keine Grenzen bilden, wo im Gegenteil die Menschen "ständig miteinander kommunizierendes Fleisch" sind, und wo unglaubliche doch wahre Geschichten erzählt werden, wie die von Opa Dimitru, Akkordeonspieler und gestorben, weil er vom Bären, dem er das Tanzen beigebracht hatte, etwas zu energisch umarmt wurde. Die junge Hauptfigur und Erzählerin, als Tochter eines Roma-Vaters und einer Gagé (Nicht-Roma)-Mutter, leidet unter dem Widerspruch, zwei Welten zuzugehören, die nicht miteinander reden. Während die Stadt der Mutter, eine Anhäufung "hoher Wohnhäuser mit Fenstern geschlossenen Augen gleich" ist, der Ort der Schule und der bürgerlichen Regeln, so ist der Campingplatz ohne Meer auf den der Vater sie einmal im Monat zu Besuch hinführt, für sie eine der naheliegendsten Formen dessen, was man ohne weiteres Glück nennen könnte.

IL RACCONTO

Mittwoch, Donnerstag, Freitag... ich zählte die Tage, die mich vom Campingplatz trennten, wohin mein Vater mich einmal im Monat führte. Mutter brüllte: „Genug!“, und Papa schnaufte. Wir fuhren aber trotzdem. Ich ging ohne mich zu verabschieden, um mir nicht das Geschluchze anhören zu müssen, das aus dem Schlafzimmer drang.
Ich war stolz auf den Campingplatz ohne Meer, weil meine Klassenkameraden nicht dahingehen konnten. Cosmin überwachte den Eingang. Wenn er uns einbiegen sah, machte er eine Geste mit der Hand und sprach durch das Fenster: „Misto avilean“.
Misto arachlemtu“.
Mein Vater musste jemand Wichtiges sein, dachte ich, sonst hätte uns Cosmin nicht reingelassen. Der Campingplatz ohne Meer war eine Anhäufung von Wohnwagen und einstöckigen Bungalows. Neben dem Eingang befanden sich die Gärten, mit einer Schaukel und einer kaputten Rutschbahn, wo man zum Raufsteigen drei Stufen auf einmal erklimmen musste. Das Frühjahr war die schönste Jahreszeit. Der Jasmin und die Gladiolen blühten um die Veranden herum und ihr Duft vermischte sich mit dem Wind. Zu jener Zeit strahlte auch die Stura wie die Sonne, und die Müllsäcke wurden in irgendeiner Höhle zusammen mit den Plastikflaschen versteckt. Sie sollten dann im Herbst wieder auftauchen und gemeinsam mit dem Fluss fließen, während die Blätter der Platanen auf das Feld fielen und die ersten Launen des Nebels die Gedanken und Richtungen verwirrten.
Unser Wohnwagen war neben einem besitzerlosen Mercedes geparkt. Dutzende bestickter Fächer hingen an den Wänden, einige hellblau und weiß, andere goldfarben. Über der einzigen Kochplatte hingen zwei Bilder der heiligen Parascheva, „das Licht der Moldau“, und ein immer brennendes Lämpchen. Die Frau mit dem dicken Hintern hatte den Boden mit zu großen Teppichen übersät. Da der Rand hochgerollt war, musste man achtgeben, dass man nicht in den Falten hängenblieb und stolperte.
Auf dem Campingplatz ohne Meer lebte man an der frischen Luft. Es gab keine Wände, weil die Menschen ständig miteinander kommunizierendes Fleisch waren. Die einzigen Barrieren zwischen den Leben der Menschen waren Blechwände, die so dünn waren, dass sie einen regelrecht zum Entweihen einluden. Die Männer hörten Petru zu, wie er unter der Veranda Akkordeon spielte, während sich die Frauen, farbenfroh und wortkarg, am Rande dieser gänzlich männlichen Szene aufhielten. Die Frau mit dem dicken Hintern brachte Kaffee mit Pflaumenschnaps: „Ţuică!“, bestellte Papa, und die Frau stellte die Flasche auf den kleinen Tisch inmitten der dreckigen Tässchen.
In dem Wohnwagen lebte Sterling, ein Mädchen mit langem schwarzem Haar. Ihre Mutter hatte sie in London zur Welt gebracht und einen Namen für sie gewählt, der ein gutes Omen sein wollte.
„Was war deine Mutter von Beruf?“, hatte ich sie eines Tages gefragt.
„Wettervorhersagen“, hatte sie mir geantwortet, „Heute Regen und Einsamkeit, aber wenn du mir einen Pfund Sterling gibst, morgen Regen und Liebe!“.
Sterling setzte sich üblicherweise unter die Gladiole und sammelte ihren Rock im Schoss. Sie war schön wie ein Madonnenbild. Sie war nur wenige Jahre älter als ich, aber sie war schon eine Frau. Man hatte sie mit Ionica verheiratet, einem Mann mit nur drei Zähnen, der ihr Plastikblumen und Goldarmreifen schenkte. Sterling schmückte sich das Haar mit den Blumen und ließ das Gold laut vor jedem, der an ihrem Wohnwagen vorbeilief, klimpern: Sollten sie nur schauen, die Anderen, dass sie Glück und Reichtum besaß und ihr Mann für sie sorgen konnte. Kinder kamen keine und die Eifersüchtigen munkelten, dass Ionica nichts anderes als kaufen und verkaufen konnte. Sterling war noch keine sechzehn, aber den Sohn eines Fremden hatte sie – wohlbemerkt – schon in ihrem Schoß getragen. Sie hatte ihn an einem Dezembermorgen geboren und ihn nur die allernötigste Zeit gesehen, um ihm Lebewohl zu sagen. Ionica hatte Sterling trotz der Schande geheiratet, und die Opfergaben an die heilige Parascheva reichten nicht aus, um den Leib der jungen Frau noch einmal zu wölben. Sie kümmerte sich nicht darum: „Du musst wissen, mein Kind“, erklärte sie mir, während sie mir in schlaflosen Nächten die Schläfen streichelte, „Alte Männer sind zu nichts gut. Man braucht sie nur, weil sie einem zu essen geben“.
Wenn der Ehemann nach Hause kam, streifte Sterling ihre Überheblichkeit ab und lief los, die Ciorbă* und die Reste des Mittagessens aufzuwärmen. Die Männer schauten ihr nach, auch Papa schaute ihr nach: „Wenn mir der Busen wächst, werde ich eine echte Frau sein wie sie“, dachte ich.
Doch mein Busen entwickelte sich nicht.
„Iss mehr Fleisch“, riet mir Sterling.
Ich kehrte zurück nach Hause und verlangte zum Abendessen zwei Schweinesteaks: „Sieh nur, was dir diese Tiere in den Kopf setzen“, schrie Mama, und reichte mir eine Portion Fisch ohne Biss.
„Mach dir keine Sorgen“, tröstete mich Sterling. „Du hast gutes Blut, und das ist es, was zählt“. Morgens wusch sich Sterling mit dem Wasser der Stura und reichte mir eine Elfenbeinbürste: „Sie ist wertvoll“, sagte sie, „Die hat mir mein Mann Ionica aus Rumänien mitgebracht“. Ich bürstete ihr die Haare und blieb mit ihr im Schatten der Glyzinie sitzen, inmitten der Hunde und Katzen, die unter den Sonnenschirmen vor sich hin dösten. Im Sommer erfrischten wir uns mit dem Wasserschlauch und legten uns zum Trocknen auf die Wiese. Die Frau mit dem dicken Hintern bereitete das Feuer vor, und Papa und die anderen Männer brieten Würstchen. Ich durfte Wein trinken und auch die Ţuică, aber nur einen Fingerbreit, und heimlich, sonst hätte es meine Mutter gemerkt.
Normalerweise übernachteten wir mindestens eine Nacht auf dem Campingplatz. Papa, Ionica und die Frau mit dem dicken Hintern schnarchten im Wohnwagen, während Sterling mich auf einer in der Veranda hingeworfenen Matratze umarmte, zwischen den Hunden und dem Tisch, dem ein Bein fehlte. Bei Vollmond hatte ich keine Angst zu sterben, jene Angst, die mir die Kehle zusammenschnürte, wenn ich zu Hause vom Balkon schaute. Von dort oben sah ich den Innenhof, in dem man nicht spielen konnte, weil es da „nur so von Drogendealern und Übelgesinnten“ wimmelte. Vor mir gab es breiteFlächen hoher Wohnhäuser mit Fenstern geschlossenen Augen gleich. Über meinem Kopf beklagte sich die Nachbarin weil ich Akkordeon übte.
Ich hasste die Stadt. Ich liebte den Campingplatz ohne Meer, und ich konnte nicht verstehen, warum meine Mutter nichts davon wissen wollte. Wenn ich aus dem Urlaub wiederkam, durchforstete ihre Nase meinen Mund, meine Haare, meine Kleider. „Ab ins Bad mit dir“, befahl sie. Sie zwang mich, ein Desinfiziermittel zu benutzen, das einen Krankenhausgeruch hinterließ. Auf dem Campingplatz wusch ich mich wenig, weil es nur ein Bad gab, ein Gebäude, in dem es nach altem Urin stank. Die Gemeinde hatte es auf dem Ufer der Stura errichten lassen und es dann vergessen. Morgens ging ich nur hin, wenn ich früh aufstand, sonst reichte mir die Frau mit dem großen Hintern eine Schüssel. Ich konnte dahinein pinkeln und sollte den Inhalt dann auf die Wiese hinter dem Wohnwagen werfen. „Kein Wunder, dass man sich da Krankheiten einheimst“, schimpfte Mama, die nie mit zum Campingplatz kam und immer krank wurde.
Sonntag abends fragte Sterling meinen Vater: „Willst du sie noch ein bisschen hier lassen? Mein Mann kann sie nach Hause fahren, wenn er wiederkommt“.
„Nein!“, sagte ich. Ich wollte nicht von Ionica begleitet werden, weil er alt war und nur drei Goldzähne hatte. Er arbeitete auf einem Lieferwagen, der sonntags vorm Stadion hielt und Süßigkeiten und Spielsachen verkaufte. Einmal hatte er mir eine Puppe geschenkt, die so groß war wie ich, mit einem Volantkleid und einer Rose in den Haaren. In der Hand hielt sie ein Akkordeon, und ihre Füße waren stark und nackt. Es war das schönste Spielzeug, das ich je gesehen hatte: „Darf ich Akkordeon spielen lernen?“ hatte ich Mutter gefragt.
„Ich schicke dich zum Schwimmunterricht. Es ist ein vollständiger Sport und kräftigt den Rücken“.
Es war Papa, der mich zur Musikschule begleitete: „Sie ist zu jung“, sagte die Lehrerin. „Sie wird noch mindestens ein Jahr warten müssen“.  
„Ich bitte Sie, lassen Sie es uns versuchen. Ihr Großvater war Musiker, und vor ihm wiederum die Mutter von seinem Großvater und der Onkel“.
Alles Leute, die ich nicht gekannt hatte. Meine Eltern hatten mir nie von der Familie erzählt. Nur Sterling hatte es getan, während der Taufe des Erstgeborenen von Cosmin, nachdem sie sich heimlich einen bitteren Schnaps hinuntergegossen hatte. Sterling hatte mich zu sich gerufen, um mir ein Foto zu zeigen, das sie in den Rockfalten aufbewahrte: „Dieser Mann ist Opa Dimitru. Siehst du, wie er lächelt?“.
Das Bild zeigte einen Mann mit Schnäuzer, der einen Bären, der viel größer war als er, an der Kette hielt: „Dimitru spielte Akkordeon und arbeitete als Bärenhüter in einer Zirkusgruppe, die durch ganz Rumänien reiste. Opa spielte in der Mitte der Manege und der Bär tanzte um ihn herum, mit einem grün-blauen Röckchen bekleidet“.
Dimitru kümmerte sich um den Bären und dressierte ihn wie einen Sohn. Wie man weiß, ist die Natur aber nicht dafür geschaffen, dankbar zu sein. Die Natur hegt Groll: „Eines Tages, während einer Aufführung, näherte sich der Bär Dimitru und drückte ihn gegen seine Brust. Vielleicht war es eine Umarmung, wer weiß, oder vielleicht Rache. Die Kinder fingen an, Beifall zu klatschen, die Erwachsenen wirbelten ihre Hüte. Der Bär drückte Dimitru weiter, er drückte ihn, bis er krepierte. Armer Opa, er ist erdrückt und glücklich gestorben“.
Erdrückt und glücklich, war ein solches Ende überhaupt möglich?
Ich kaute auf dieser Frage herum, bis ich sie runterschluckte, und begnügte mich mit der einzigen Sicherheit jener Zeit: Die Frau mit dem dicken Hintern und mein Vater verständigten sich, ohne reden zu müssen. Wenn sie sich trafen, schlugen sie drei Kreuze zu Ehren der heiligen Parascheva. Dann sagte Papa: „Ţuică!“, und die Frau stellte die Flasche und einige Schnapsgläser auf den Tisch.
Die Frau mit dem dicken Hintern sprach nicht: Sie hatte sich entschieden, zu schweigen, um den Sohn, der eine Gagé** geheiratet hatte, zu bestrafen. Ich war die Frucht dieses Affronts und musste deshalb ein halbes Wesen sein, an der Grenze zwischen Zuneigung und Gleichgültigkeit. Ich sollte es erst mehrere Jahre später begreifen, als es schon zu spät war, um Irgendwer-oder-Irgendwas zu werden, oder um keins von beiden zu werden.
Sonntagabends verließ ich den Campingplatz ohne Meer. Cosmin winkte mir zum Abschied mit der Hand, und das Auto von Papa kehrte zum regelmäßigen Rhythmus des Asphalts und der Welt zurück. Zu Hause erwarteten mich die Klagen der Nachbarin, die hohen Wohnhäuser mit den geschlossenen Augen und die Beschwerden meiner Mutter: „Wenn ich das gewusst hätte, mein Lieber, hätte ich dich dort gelassen, wo du warst“, schrie sie Vater zu, der sich in das Badezimmer einschloss und eine filterlose Zigarette rauchte.

„Papa, wo warst du denn?“
„Ich bin schon immer hier gewesen“.
„Zusammen mit der dicken Frau?“
„Ja“.
„Die mit dem langen Rock?“
„Die Frauen in ihrem Alter bedecken ihre Beine.“
„Warum ist ihr Rock gelb mit roten Blumen?“
„Es gefällt ihr so.“
„Warum sprichst sie nie mit uns, sitzt nur da und schaut mich an?“
„Ihr geht es nicht so gut. Hast du nicht gesehen, wie dick sie ist? Sie kann sich nicht bewegen. Wir gehen sie besuchen, weil sie alt und krank ist.“
„Wer ist sie?“
„Eine Frau, die mich kennt, seit ich klein war.“
„Hast du sie lieb?“
„Ja.“

* ciorbă: suppe.
**Gagè: Nicht-Roma