10. preis 2019 • Gewinner - Veröffentlichte Beiträge

Ich Muss Deutschland

Catalin Dorian Florescu

Catalin Dorian Florescu

Catalin Dorian Florescu ist 1967 in Timisoara, Rumänien, geboren. Eine erste Ausreise 1976 aus medizinische Gründen führte den Vater mit seinem Sohn über Rom bis nach New York, jedoch entschied der Vater, dass sie nach Rumänien zurückkehren sollten. 1982 erfolgte, diesmal auch mit der Mutter, die zweite Ausreise in den Westen. Seitdem wohnt der Autor in Zürich, wo er Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich studierte. Für mehrere Jahre arbeitete Herr Florescu als Psychologe im Bereich der Drogenabhängigkeit. Er liess sich in Gestalttherapie, die zu den humanistischen Psychotherapieschulen gehört, weiterbilden. Seit Dezember 2001 lebt er als freier Schriftsteller. Ab April 2019 wird er als "literarischer Matrose" auf Donauschiffen unterwegs sein. Er hat sechs Romane, einen Erzähl- und einen Essayband über die Freiheit geschrieben.

BegrÜndung der Jury

Unter den vielen wertvollen veröffentlichten Texten, die an dieser zehnten Ausgabe von "Frontiere / Grenzen" teilgenommen haben, hat die Jury beschlossen, Ich muss Deutschland von Catalin Dorian Florescu auszuzeichnen – eine Geschichte aus der Sammlung Der Nabel der Welt aus dem Jahr 2017. Der Ich-Erzähler von Florescus Geschichte ist ein junger Grenzbeamter, der in einem an Serbien angrenzenden Gebiet Rumäniens arbeitet. Am Höhepunkt der Geschichte zieht der Polizist seine Schuhe aus, schenkt sie dem syrischen Flüchtling, den er verhaftet hatte, während er barfuß und blutend illegal die Grenze überschreiten wollte, um nach Deutschland zu gehen, und lässt ihn entkommen. Der Gipfelpunkt der Szene, vorbereitet von Seiten, auf denen man einer schmerzhaften, jedoch widerstandsfähigen Menschheit begegnet (zu den besonders bemerkenswerten Figuren gehören unter anderem die Großmutter des Protagonisten und der Busfahrer), erinnert an die Schlussszene der neapolitanischen Episode in Rossellinis Film Paisà. Florescus lange Geschichte ist in der Tat eine Art konzentrierter "neorealistischer" Roman, in dem das Europa von gestern und das von heute mit seinen Dramen, seinen Schließungen und Mauern hervorkommt, aber auch mit den Gesten der individuellen oder kollektiven Rebellion gegen den Leitgedanken und die Angst vor dem anderen.

ErzÄhlung

Die Stadt erwacht noch nicht. Sie schlät tief und ruhig, in ihren Eingeweiden schlafen die Ratten, auf dem Dachboden verfallener Häuser die Tauben und an den Straßenkreuzungen, zusammengerollt die Hunde. Vom Balkon aus starre ich in die Weite, über dem lachen Dach der Platte hinweg, die etwas kleiner als unsere ist, aber ebenso wenig in Stand gehalten. An dieser Straße wirken die Wohnhäuser, als ob sie stehend k.o. wären. Wie wenn nur ein kleiner Windstoß, ein Erzittern der Erde genügten, damit sie zusammenbrechen.
Mein Blick sucht den Wasserturm weit im Osten der Stadt, um dort das erste Licht des Tages zu erhaschen. Gleichzeitig mit diesem erhebt sich immer auch das Volk der Krähen, verwandelt den Himmel in einen lärmigen, hektischen Ort und liegt dann westwärts.

Es ist Ende Mai, der Raps, die Gerste, der Weizen stehen fast schon kniehoch, für die Vögel gibt es noch immer genug Futter. Sie werden eine Weile liegen, manche von ihnen bis an die Grenze von Serbien, dort, wo mein Arbeitsort ist, und dann zielsicher auf den Feldern landen. Am Abend werden sie, so wie ich, zurückkehren, weit oben über dem Zug von Jimbolia nach Timișoara ziehen, träge und satt. Ich aber werde hungrig sein.
Ein Licht geht auf der anderen Straßenseite an, jeden Morgen dasselbe Licht, zur selben Zeit, wie auf ein Signal hin, kurz nachdem die Vogelschwärme weg sind. Wie wenn die V ögel ein Taktgeber wären, im Leben jener Frau und in meinem eigenen. Sie bestimmen unseren Tagesbeginn wie auch jenen von Nea Nicu, dem Busfahrer, der sich diesmal ein wenig verspätet. Längst schon hätte er autauchen sollen, denn bis zum Busdepot hat man fast eine halbe Stunde zu Fuß. Nea Nicu geht i mmer zu Fuß, wenn er nicht Bus fährt. Er sagt, sogar zum F riedhof wolle er gehen, wenn er einmal tot sein werde.

In einer Stunde werde ich in seinen Bus einsteigen, ihn nach seinem Sohn fragen, der in Boston arbeitet, nicht dem amerikanischen, sondern dem englischen, in der Grafschat Lincolnshire. Er wird sich bei Gott bedanken, dass er einen krätigen, gesunden Sohn hat, der für die Engländer arbeiten und in deren Treibhäusern Gurken ernten darf. Während er Gas geben wird, wird er vom Fleiß, von der Sparsamkeit seines Sohnes schwärmen, der mit dem Geld, das er in England verdient, seinem Vater die kleine Wohnung gekaut hat, in der er lebt. So wie Mutter mir und Großmutter die winzige Wohnung gekaut hat, mit dem Geld von den Österreichern. Ein paar Raten noch, dann gehört sie ganz uns.
Der halbe Wohnblock ist ausgelogen, lebt im Ausland, putzt österreichische Hintern, reinigt deutsche Zahnprothesen, erntet spanische Erdbeeren. Die Hände der Menschen von hier haben viele Körper gestützt, gewaschen, zum Schlafen gebettet. In vielen Erden gewühlt. Von denen, die ich aus der Kindheit kenne, sind fast alle weg.
Es ist Zeit. Ich nippe noch ein wenig am kalten Kafee, werfe den Zigarettenstummel hinunter und verabschiede mich von der Nachbarin, die auf ihrem Balkon steht und raucht, mit einem fast unsichtbaren Kopfnicken, das sie erwidert. Das sie täglich erwidert, als ob es ein geheimer Code wäre, ein stummes E inverständnis. Als ob wir ein Geheimnis teilten, ein konspiratives Wissen. Und doch sind wir nur zwei einsame Raucher – sie einige Jahre jünger als ich –, die weit weg von der wirklichen Welt sind, wo sich die wirklichen Dinge ereignen. Wir rauchen die erste Zigarette des Tages, jeder auf seinem Balkon, in seinem eigenen Käig.
In ihrer dunklen Ecke wacht Großmutter auf. Sie hat mir das zweite Zimmer überlassen und streckt sich nachts zum Schlafen auf dem Sofa vor dem Fernseher aus. Sie brauche nur noch wenig Schlaf, meint sie, das sei eine der letzten Freiheiten der Alten. Sie schließt nur die Augen und tut so, als ob sie schliefe, damit ich sie nicht tadle. Sie sagt: « Ich will doch sehen, wenn der Tod sich heranpirscht. Vielleicht lässt er noch mit sich reden. »

Seitdem sie von Mutter, die ein wenig Deutsch kann, erfahren hat, dass der Tod auf Deutsch ein Mann ist, murmelt sie manchmal unzufrieden: « Wir Frauen bringen den Menschen auf die Welt und wir sollten ihn auch wieder herausführen. »

Großmutter setzt sich auf und glättet sich als Erstes ihre Haare, etwas, was sie seit ihrer Jugend tut, hat mir Mutter e rzählt. Sie hat immer noch dicke, krätige Haare, an denen sie mit Leichtigkeit eine ganze Männerschar hätte ziehen können. In Wahrheit hat sie nur Großvater aus jeder Kneipe herausgezogen, bis ihn die Moartea holte. Der rumänische weibliche Tod.

Wenn sie die halbe Nacht wach ist, sitzt sie vor dem stummen Bildschirm des Fernsehers oder liest am Computer Artikel, die ich für sie runtergeladen habe. Neben Gott beschätigt sie am meisten das Paranormale. Als ob es in unserem Land nicht genug Unnormales gäbe. Sie glaubt, dass sich im Bucegi­Gebirge ein Tor zu einer anderen Welt beindet, wo unvorsichtige Bauern oder Schäfer samt ihren Herden für immer verschwinden. Sie glaubt, dass unter den Karpaten ein Tunnel beginnt, eine Art gigantischer Lütungsschacht, der erst bei der CheopsPyramide endet und uns mit kosmischer Energie versorgt.

« Und wer hat so was gebaut? », frage ich sie komplizenhat, denn ich weiß, dass sie gerne darüber redet. « Das kümmert mich wenig. Hauptsache, er ist dort. » « Und wozu soll ein solcher Tunnel gut sein? » Sie schüttelt den Kopf über meine dumme Frage. « Wie das: wozu? Er versorgt uns mit Energie. So was hat kein anderes Land. Wir sind eben einzigartig. » « Und wenn wir so einzigartig sind, wieso wollen alle weg von hier? » Darauf weiß auch sie keine Antwort. Beleidigt zuckt sie nur die A chseln.

Ich habe mich inzwischen gewaschen, das frische Hemd und die Uniformhose angezogen. Großmutter kocht für sich Kafee in einer Kanne, die pfeit, wenn das Gebräu bereit ist. Mutter hat sie aus Österreich mitgebracht, aber noch lieber holt Großmutter ihren Ibric hervor und macht türkischen Kafee, so wie sie es als Mädchen gelernt hat. « Ein Kafee, comme il faut », murmelt sie dann und wiederholt mehrmals das Französische. Kurz stehen wir uns im fahlen Licht der Küchenlampe gegenüber. So lange ich mich zurückerinnere, hatte ich nur sie.

« Hast du heute Morgen schon den Blutdruck gemessen? », will sie wissen und greit nach dem Messgerät, ein anderes Mitbringsel meiner Mutter.
« Buni, ich bin erst sechsundzwanzig und Grenzpolizist. Es geht mir bestens. Man überprüt dauernd unsere Gesundheit. »

« Du sitzt ständig im Wagen und starrst auf die Grenze, damit sich keine Terroristen einschleichen. Du bewegst dich nicht. Wir haben schon deinen Vater wegen des zu hohen Blutdrucks verloren, ich will nicht, dass dir dasselbe zustößt. Man kann den Blutdruck nicht ot genug messen. Also kremple endlich deinen Ärmel hoch. »

Überzeugt von der Aussichtslosigkeit meines Widerstandes, ergebe ich mich ihr, so wie an jedem anderen Tag auch. So wie damals mit zehn Jahren, als sie mir morgens ungenießbare, t rockene belegte Brote in die Schule mitgab. Oder als sie mich mit vierzehn Jahren zuerst zum Fotografen, dann zum Friseur und schließlich wieder zum Fotografen mitschleppte, damit sie Mutter Vorher­Nachher­Fotos von mir schicken konnte. Auf der Rückseite des Ersten schrieb sie: Die ganze Jugend verwildert, und dein Sohn ist keine Ausnahme. Er lucht und raucht auch. Unter den Kommunisten wäre so etwas nicht möglich g ewesen. Aber jetzt haben wir wenigstens die Freiheit. Dahinter setzte sie ein Ausrufe­ und ein Fragezeichen. Auf dem and eren Foto vermerkte sie: Er ist ein lebhater Junge und gehorcht mir nicht. Wenn du nicht bald nach Hause kommst, um dich um ihn zu kümmern, wird er noch kriminell. Ich bin eine alte Frau, ich habe nicht mehr die Nerven dazu. Aber mit dem kurzen Haarschnitt sieht er immerhin wieder wie ein Mensch aus.

Mutter kam doch nicht oder nicht für immer. Doch kriminell bin ich deshalb nicht geworden.
Ich bin so alt wie die Freiheit. Kaum war Ceaușescu gestürzt worden und das Volk hatte auf den Straßen gefeiert, schon hatten bei Mutter die Wehen eingesetzt. Einer Schwangeren werden sie schon nichts tun, hatte sie gedacht. Sie hatte nicht anders gekonnt: Sie war auf die Straße geeilt, war mit der Menge gelaufen, hatte sich versteckt, hatte Angst gehabt, und, als es feststand, dass es möglich war zu träumen, hatte sie sich in die Arme fremder Menschen geworfen. Dann hatte sie die Schmerzen gespürt. « Es war das letzte Mal, dass Ceaușescu mich gequält hat », sollte sie durch die Jahre wiederholen.

Ich bin also sechsundzwanzig Jahre alt, nicht kriminell, sondern das ziemliche Gegenteil davon, Grenzpolizist, unterster Dienstgrad, aber mit Aufstiegsaussichten. Ich jage Zigarettenschmuggler, Autoschieber, Ganoven aller Art, die illegal über die Grenze wollen, und in letzter Zeit auch arme Schlucker, die sich auf ihrem Weg in den Westen bei uns verirren. Sie kommen aus einem Land, über das ich bis vor kurzem noch nichts gewusst habe und sogar jetzt nicht viel mehr weiß, als dass sich dort alle bekriegen. Ich weiß nicht einmal, wo genau es sich beindet.

Wobei zu sagen, dass wir sie jagen, nicht ganz stimmt; es gibt kaum einen Vorfall am Tag entlang der südwestlichen Landesgrenze und die ist mehrere Hundert Kilometer lang. Meistens betrit es andere Kollegen, an anderen Grenzabschnitten. Für uns bleibt nur das Warten.

Zufriedengestellt drückt Großmutter meine Schulter, damit ich mich hinsetze, und befestigt das Gerät an meinem Oberarm. Dann drückt sie auf den Knopf. Während es gewissenhat seine Aufgabe erfüllt und den Arm zusammendrückt, schauen Großmutter und ich uns an. Im Dämmerlicht der Küche erscheint sie noch älter, als sie ist, wegen den Halbschatten wirken ihre Falten tiefer und länger.

Von einer Blutmessung zur anderen scheint sie schneller zu altern, als ob die Moartea es eilig mit ihr hätte. Nur ihre wässrigblauen Augen sind lebhat geblieben und gut verborgen zwischen den Hautfalten, wie Perlen in einer Muschel.

Was denkt sie über mich, wenn sie mich so anschaut? Wie sieht sie mit ihren tränenden Augen?
Das zweimalige Piepsen des Geräts bringt uns in die Welt zurück. Sie ist zufrieden mit dem Ergebnis, für einen weiteren Tag bin ich ungefährdet und der Herztod ist aufgeschoben. Der Herztod, an dem Vater in einem Wäschereiauto auf einer Nebenstraße zwischen Dornbirn und Bregenz gestorben ist, allein, ohne einen von uns, der seine Hand hätte halten können, umgeben vom Geruch frisch gewaschener und gestärkter Hemden, Hosen und Tischtüchern, denn seine Firma war auf alles spezialisiert. Oder die Bettlaken, die sich hinter ihm autürmten, hatten den Geruch schlafender, verschwitzter Körper aufgenommen, oder denjenigen von Liebenden. Und die Tischtücher waren bespickt mit den Essensresten vom Vorabend. Man hat uns nie erzählt, und wir haben nie gefragt, was er gerade transportierte. Aber schnell musste es gehen, zu schnell für sein Herz.

Großmutter hilt mir die Uniformjacke zuzuknöpfen und tätschelt meine Wange. Auch das tut sie seit Ewigkeiten, nur dass ich früher die Schuluniform trug.

« Willst du kein Sandwich mitnehmen? Wenn du dort draußen im Niemandsland sitzt und wartest, kriegst du vielleicht Hunger. »

« Wir patrouillieren auf dem Grenzstreifen, Buni, wir machen kein Picknick. Jetzt aber muss ich los, sonst verpasse ich Nea Nicus Bus. Wenn ich am Abend zurück bin, erzählst du mir, ob es etwas Neues über die Cheops­Pyramide und das Tor zur anderen Welt gibt. Ich habe einige Artikel für dich auf dem Desktop gespeichert. Du brauchst sie nur anzuklicken. »
Als ich auf die Straße trete, blicke ich kurz hinauf, denn Großmutter legt Wert darauf, mir zuzuwinken. Wenn früher Mutter und Vater hier unten standen und wir beide dort oben, konnten wir sie kaum ausmachen, denn sie brachen vor dem Sonnenaufgang auf, damit sie es an einem Tag bis nach Dornbirn schaten. Bis zur nächsten Ecke hupte Vater mehrmals, dann legte sich trügerische Stille über alles und alle, über die schlafenden Hunde und die erwachenden Krähen, über die träumenden Menschen.
Ich komme im letzten Augenblick an der Bushaltestelle an, der Bus wartet mit ofenen Türen auf mich und drinnen, hinter seinem Steuerrad, tippt der Alte ungeduldig auf seine Uhr. « Steig ein! Deinetwegen bin ich jetzt im Rückstand. Wenn ich nicht gewartet hätte, würdest du den Zug verpassen. »
Ich bin der einzige Fahrgast und setze mich wie immer d irekt hinter ihn, damit er mich im Rückspiegel sehen kann. Es gibt eine Art Komplizenschat zwischen uns, einen bes timmten Ablauf der Dinge, Wiederholungen, Rituale, an denen wir seit Jahren festhalten. In seinem Bus bin ich älter gew orden und er alt. Am Anfang hat mich Großmutter ihm direkt bei der Bustüre übergeben und er hat vor der Primarschule angehalten, obwohl dort gar keine Haltestelle ist. Später hat er mich ins Gym nasium gefahren und noch später hat er im Rückspiegel geseh en, wie ich neben dem ersten Mädchen gesessen habe, das ich liebte; noch später neben Mutter, die mich – jedesmal, wenn sie, um Urlaub zu machen, nach Hause gekommen ist –, in die Stadt mitgenommen hat, um mich neu einzukleiden.
Noch etwas später hat er Mutter, Großmutter und mich von Vaters Begräbnis zurückgefahren. Und in den letzten Jahren hat er mich zum Bahnhof gefahren, damit ich den Zug nach Jimbolia, zu meiner Einheit, nehme. Jedesmal hat er geklagt, er würde sich meinetwegen oder unseretwegen verspäten. Aber jedesmal hat er gewartet. Das Tippen auf das Gehäuse der Uhr hat mich durch die Jahre begleitet wie Großmutters Haareglätten oder ihr Wangentätscheln.
Ich weiß, was er von mir erwartet. Er will eine anständige Frage über England hören, über englische Schlösser, Könige, Kriege, über Churchill, die englische Kriegsmarine, über die englischen Moore, über den Tod von Lady Diana – ein Unfall oder nicht? Seitdem sein Sohn auf der Insel lebt, hat er alles gelesen, was er dazu gefunden hat. An den Endstationen, während seiner Pausen, blättert er Magazine und schmale Bildbände durch. Ot genug hat er sie mir nach hinten gereicht.
Da ich aber immer noch stumm da sitze und durch das v erdreckte Fenster schaue, räuspert er sich mehrmals. Im Rückspiegel trit mein Blick auf den seinen, und Nea Nicu zieht f ragend die Augenbrauen zusammen.
« Nea Nicu, bald beginnt die EM. Bist du für Rumänien oder für England? »
Er wendet den Kopf zu mir um und schüttelt ihn. Das geschieht selten, denn auch wenn er sich in voller Fahrt über die absurde, arme, zur Verzweilung treibende Zeit aufregt, in der wir leben, auch wenn er über ein Land in Rage gerät, das seinen Sohn in die Arme der Engländer getrieben hat, einen Sohn, der seinen Vater, einen bald pensionierten Busfahrer, zurücklassen musste, auch dann wenden seine Blicke sich nie von der Fahrbahn ab. Außer in diesem Moment und deshalb erscheint mir meine Frage dumm und unangebracht.
Denn was sollte ein alter Schäfer mehr lieben als die Täler, durch die er jahrein, jahraus seine Herde getrieben hat? Und was der Bergarbeiter, der in einer schwarzen Stadt lebt, neben dem stillgelegten Bergwerk, in das er täglich herabgestiegen ist, bis er öter hustet, als er atmen kann? Was sollte er mehr l ieben als die schwarze Gegend, die ihn genährt hat? 
Und was soll ein alter Busfahrer mehr lieben als seinen Bus und die Stadt, durch deren Adern er täglich fährt? Was soll er mehr lieben als die Straßen, die er wie seine Westentaschen kennt, die Menschen, die er seit Jahrzehnten beobachtet, die morgens mit ihm still zur Arbeit und abends mit ihm still wieder zurückfahren? Der sich hier und nur hier nützlich fühlen kann. Der niemals in rote englische Busse gestiegen ist, sondern nur Hochglanzprospekte mit Busfotos besessen hat.
Aber Nea Nicu überrascht mich. Weil er mich verärgert angeschaut hat, muss er plötzlich bremsen, und lucht zunächst über einen Autofahrer, dann über eine Hundemeute, die die Straße überquert hat, schließlich über den Zustand der Straßen im allgemeinen, die sich nur allmählich, sechsundzwanzig Jahre nach dem Beginn der Freiheit, von ihrem kommunistischen Kollaps erholen. Er lucht über die Politiker, die alle noch in ihren warmen Betten schlafen und zulassen, dass das Land wie ein manövrierunfähiges Schif davontreibt.
Als ihm die Gründe ausgegangen sind, lucht er eine Weile nur noch aus Gewohnheit weiter. Erst danach erinnert er sich an meine Frage und sagt trotzig: « Natürlich bin ich für England. Was hat mir dieses Land schon gegeben? Ich drehe mich doch nur seit dreißig Jahren im Kreis. England hat Dan aufgenommen, jetzt gehört England mein Herz. »
« Und wie ist heute das Wetter in Boston? »
« Mies. Heute wird Dan ganz schön nass werden auf den Feldern. Wenn er sich nur nicht schlimm erkältet. »
« Nea Nicu, wie ist eigentlich Dan nach Boston gekommen? Boston ist doch voller Polen, habe ich gehört. »
Er lacht.
« Na, wie schon? Indem er eine Polin kennengelernt hat. Sie hat mittlerweile einen Laden an der Hauptstraße von Boston und verkaut alles, was Polen so gerne essen. Was essen Polen überhaupt? » Er hält kurz inne. « Ich weiß es nicht. Jedenfalls will auch Dan sich eine neue Arbeit suchen, an Arbeit, schreibt er, mangelt es nicht. Übrigens lässt er dir sagen, dass du seine Stelle übernehmen könntest. Der Patron ist froh, wenn er nicht lange suchen muss, und Dan ist fein raus. Du plückst ein, zwei Jahre Salat und Gurken, danach indet sich auch für dich eine bessere Arbeit. »
« Ich habe doch Polizist gelernt, was anderes kann ich nicht. »
« Es gibt andere, die gar nichts gelernt haben, und sie verdienen bestimmt das Doppelte wie du. Willst du dein ganzes Leben lang Räuber und Gendarm spielen? Die Grenze rauf und runter laufen? »
« Wir fahren, Nea Nicu. Es ist nicht mehr wie unter Ceauș escu, man ist nicht mehr zu Fuß unterwegs und mit dem Gewehr auf der Schulter. Heutzutage fahren wir und haben die neueste
Technik. Was wir tun, ist sinnvoll: Wir schützen die Grenze. » Er winkt voller Widerwillen ab.
« Erzähl mir nicht, was du tust. Ein paar Zigarettenschmuggler und Autoschieber. Man hört es in den Nachrichten. Wovor willst du schon die Grenze schützen? Wer will schon zu uns kommen? Denk daran, du bleibst nicht immer jung. »
Nach und nach füllt sich der Bus, die Nacht weicht endgültig zurück, die Stadt erwacht, reibt sich den Schlaf aus den Augen. Der Tag beginnt träge und kühl, er schöpt immer mehr Krat, vor dem Bahnhof ist allerhand los. Ich verabschiede mich vom alten Mann, der mit seinen sechzig Jahren gar nicht so alt ist. Der aber für mich – der mit ihm schon als Kindergartenkind und Schüler gefahren ist, der beobachtet hat, wie sein Rücken immer krummer und sein Nacken immer breiter geworden sind – schon als junger Mann alt gewesen ist.
Als ich den Schulaufsatz über meine Familie schreiben musste, hatte ich ihn anstelle eines Großvaters beschrieben, den ich nicht gekannt hatte. Irgendwann hatte ihn Großmutter mit ihren starken Haaren nicht mehr aus den Kneipen herausziehen können. Mein Großvater war rundlich, fuhr Bus, war ungeduldig, zeigte immer auf seine Uhr, aber, wenn es darauf ankam, war immer Verlass auf ihn gewesen.
Der Zug fährt langsam durch die ausfransende Peripherie der Stadt. Wohnblöcke und Einfamilienhäuser sind vor Jahren auf ofenem Feld gebaut worden, nur um dann leerzustehen, Ruinen schon bei ihrer Erbauung. Die Stadt hat krakenhat ihre Tentakel über das leere Land ausgebreitet, an leerem Land hat es nie gemangelt. Vor den Toren von Timișoara breitet sich eine lache Unendlichkeit aus, genug Raum für all jene, die aus den alten, verfallenen Platten lüchten wollen. Erst seit kurzem beleben sich die Betongehäuse, sieht man Spielzeug auf dem Rasen und Wäsche zum Trocknen auf den Balkonen.
Dann fahren die zwei blauen Zugwaggons, die von einer elektrischen Lokomotive gezogen werden, an Einkaufszentren und Lagerhallen vorbei, an Maschinenparks, Speditionsirmen, Coca­Cola­Fabriken und an einem kleinen, künstlichen See, an dessen Ufer ein paar Männer neben ihren Fahrrädern und Angelruten hocken und aufs Wasser starren, als ob sie nicht dort wären, um Fische zu angeln, sondern um den letzten Dingen auf den Grund zu gehen.
Der Zug nimmt Fahrt auf, die letzten verspäteten Krähenschwärme begleiten uns Richtung Westen, manche landen unweit der Stadtgrenze, andere wagen sich weit hinaus, bis nach Jimbolia. Die Krähen haben mit Landesgrenzen nichts zu tun, sie suchen ihr Futter auf den Feldern aller Bauern, ob Rumänen oder Serben. Nun lassen wir einige Getreidesilos und verfallene, leere Bunker hinter uns, aus der Zeit, als man sich auf einen Krieg mit Tito eingestellt hat.
Serbien ist nicht mehr weit weg, einen Katzensprung von nur vier oder fünf Kilometern. Das Wäldchen, das man in der Ferne sieht, steht schon auf der anderen Seite. Kurz davor und vom Zug aus nicht zu sehen, erstreckt sich der Grenzstreifen, eine Handbreit Land, auf dem nichts höher als einige Zentimeter wachsen darf.
Ein paar Kilometer vor der Ankunt in Jimbolia passiert der Zug langsam einen Bahnübergang. Auf beiden Seiten warten die Autos. Es ist einer jener trügerischen Übergänge ohne Schranke oder Lichtsignal, wie man sie ot im Land indet. Die tägliche Portion Risiko, die der Reisende auf sich nehmen muss, die kleine Mutprobe.
Die Stelle, die leicht erhöht ist, muss mehrmals täglich von Bauern, die von der Feldarbeit kommen, von Menschen, die in die Stadt fahren, von Bussen und Lastwagen, von Fahrradfahrern und Pferdewagen überquert werden. Sie alle müssen einmal oder mehrmals dort durch und in dem Augenblick, in dem sie oben auf den Schienen stehen, ist die Möglichkeit des Todes realer als in der Sekunde davor oder danach.
Leben und Tod stehen sich niemals näher als in der Winzigkeit jener Sekunde, ein Wimpernschlag nur, aber ein mächtiger. Der Tod lauert weiter hinten, in den Büschen entlang der Trasse, hinter der nächsten Kurve. Der Tod drosselt kurz zuvor sein Tempo, aber sein Schnauben ist immer noch krätig genug. Man schaut nach links, nach rechts, dieses Ritual wiederholt sich hundertfach. Ein ganzes Leben verbringt man damit, dem Tod, dem weiblichen, von der Schippe zu springen.
Genau dort, neben der Trasse, steht tagein, tagaus ein kleiner, dürrer Mann mit verilztem Haar, den wir alle den « Bahnwärter » nennen. Wir wissen, dass er draußen im Feld, in einem Unterschlupf, den manchmal Schäfer benutzten, wohnt, und lassen ihn auf unseren Patrouillefahrten in Ruhe, da er niemandem schadet. Außerdem müssen auch wir ot über die Trasse fahren und ihm dabei vertrauen.
Zwei magere, verlauste Hunde sind stets bei ihm, die ihn keinen Augenblick aus den Augen lassen. Wenn er den Verkehr dirigiert, wenn er die Autos von der einen zur anderen Seite der Schienen bringt und danach die Münzen einsteckt, die man ihm manchmal gibt, verfolgen ihn besorgt die Blicke der Hunde. Denn die Tiere haben sonst niemanden.
Er gibt dem Fahrer ein Zeichen zu warten, geht in die Mitte des Übergangs, bleibt auf den Schienen stehen und schaut in beide Richtungen, danach gibt er die Strecke frei.
Er muss einen Pakt mit der Moartea haben, die sich dort draußen versteckt hält und ihn gewähren lässt. Sie kennen sich bestimmt, sie trefen sich nachts auf dem Feld und verhandeln darüber, wie viele Seelen sie am nächsten Tag mit sich nehmen darf. Ot genug geht der Tod leer aus.
Wenn er sich einmal hinsetzt, um sich auszuruhen, drängen sich die Hunde ganz dicht an ihn und legen ihre Schnauzen in seinen Schoß. Eine solche treue Liebe ist selten.
Wenn ich ihn aus dem Zugfenster sehe, weiß ich, dass ich noch Zeit für genau eine Zigarette habe. Aus den ofenen Fenstern wehen die schmutzigen Vorhänge und blähen sich auf, als ob der Zug durch ein Meer von Weizen segeln würde. Kurz vor der Halde – einen richtigen Bahnhof gibt es nicht –, ziehe ich meine Mütze fester ins Gesicht, rücke den leeren Pistolenhalfter zurecht und springe auf das menschenleere Gleis, noch bevor der Zug stoppt. Ich überquere die Straße und trete in den Hof der Grenzpolizei von Jimbolia ein.
« Da bist du ja », empfängt mich der diensthabende Oizier. « Man braucht euch am Grenzübergang nach Serbien. Man hat einen verdächtigen türkischen Lastwagen angehalten. Dann hat ein Bauer mit seinem Traktor eine Grenzstele auf dem Streifen umgekippt. Schaut nach, ob man sie noch brauchen kann oder eine neue errichten muss. Und dann patrouilliert bis Beba Veche, auf serbischer Seite soll es Gruppen von syrischen
Flüchtlingen geben, die in die falsche Richtung gehen. Statt nach Ungarn marschieren sie jetzt auf uns zu. Der Befehl lautet wie immer: Am Weitergehen hindern und Verstärkung anfordern. Seid vorsichtig, unter ihnen könnten auch Terroristen sein. Jetzt hol deine Wafe, Badea wartet schon auf dich. »
So ist unsere Arbeit immer gewesen, und so würde sie immer sein: Wir sind misstrauisch gegen alles und jeden. Wir überprüfen unentwegt Lastwagen, Pässe, Menschen, wir halten verdächtige Fahrzeuge an, nehmen sie auseinander, suchen nach Verstecken. Wir versuchen Gesichter zu lesen, um zu verstehen, was die Leute vorhaben. Die Gesichter geben die Geheimnisse der Menschen Preis, wenn man nur richtig hinschaut. Ein kleines Zucken hier, ein unsicheres Lächeln dort, ein ausweichender Blick oder ein allzu forscher.
Wir scheuchen Paare auf, die sich zu nah am Grenzstreifen lieben. Sie fahren ins Feld und suchen Abgeschiedenheit, sie wählen holprige Traktorenwege, sie wollen im Kornfeld abtauchen, aber unsere Wärmedetektoren entd ecken ihre hitzigen Körper. Vor den Detektoren ist kein Versteck sicher. Sie unterscheiden nicht zwischen sich duckenden Syrern und sich im Gras liebenden Rumänen.
Der Mensch ist für die Maschinen nur eine Wärmequelle, sie sind ganz unparteiisch. Ot genug aber rücken wir aus und i nden nur frische Spuren von Kühen, Kaninchen, Füchsen, streunenden Hunden. Einmal spürten wir einen Betrunkenen auf, der den Weg ins Dorf nicht mehr gefunden und sich auf dem Streifen schlafen gelegt hatte. Weil er aber auf der anderen Seite der Grenze schlief, mussten ihn die Serben wecken und zu uns bringen.
Meist aber fahren wir im Schritttempo auf dem mit Zementplatten bedeckten Feldweg, den die Europäische Union bezahlt hat, so wie die Wärmedetektoren, unsere Autos oder die Nachtsichtgeräte. Damit wir efektiver werden, und das Böse, das über die Grenze schleichen will, stoppen. Wir bewachen eine  exklusive Grenze, nicht irgendeine, sondern die Außengrenze der EU. Nicht jeder Kollege erhält diese Chance. Manche verrichten ihren Dienst bloß an der ungarischen oder bulgarischen Grenze. Wir aber sind das letzte Bollwerk vor der Flut.
In Wahrheit sitzen Badea und ich nur lange im Auto, versteckt in einem Wäldchen, und starren vor uns hin. Manchmal steigt einer von uns ohne ein Wort aus, wenn ihm etwas verdächtig scheint, und späht die Gegend mit dem Feldstecher aus, dann steigt er genauso wortlos wieder ein. Ot ist es nur einer der Bauern, der nach seinen bestellten Feldern schaut und den wir gut kennen. Oder nur das trügerische Flimmern am Horizont, in der Mittagshitze. Oder nicht einmal das, da ist gar nichts. Dann steigt man wieder ein und sagt höchstens das: « Da war gar nichts. » Dann geht das Schweigen weiter, weder drinnen noch draußen rührt sich was.
Selten erzählt Badea, der weit über siebenundfünfzig ist und bald pensioniert werden soll, von früher. Er hat noch die Kommunisten erlebt, ist als junger Soldat dieselben Felder auf und ab gelaufen, hat auf den Plattformen der Beobachtungsposten, die jetzt nicht mehr benutzt werden, gestanden und auf den kleinsten Verdachtsmoment gewartet, die kleinste Bewegung in der Landschat. Auf das kleinste Geräusch. Ohne Wärmedetektoren, ohne Nachtsichtgeräte und nur auf das eigene Ohr, das eigene Auge vertrauend.
Es ist eine Zeit gewesen, als die Grenze vor jenen geschützt werden musste, die raus wollten; jetzt sollen wir niemanden reinlassen, theoretisch zumindest, denn eigentlich kommt ja kaum jemand. Manchmal lesen wir in den Pressemitteilungen, die täglich herausgegeben werden, dass irgendeiner, der im Westen gesucht wird, an einem südlicheren Grenzabschnitt g efasst worden ist. Dass weiter nördlich, in einem Laster, gefälschte Schmuggelware gefunden worden ist, Jeans, Parfüm, Zigaretten.
Es sind einzelne kleine Höhepunkte, die einen ganzen Dienst alltag nicht ausfüllen können. Wir warten routiniert, und Badea, der die letzten Jahre absitzen will, um danach nur noch zu ischen, ist es ganz recht so. Nach Neunundachtzig ist er in den Dienst zurückgekehrt. Es hat in der Gegend keine andere Arbeit gegeben. Ich habe nie verstanden, wieso er nicht befördert worden ist, er ist ein simpler Grenzpolizist geblieben, so wie ich. Fragt man ihn danach, weicht er aus.
Einige Tage später stehe ich wieder auf dem Balkon und rauche. Wieder erheben sich die Krähen und geht das Licht gegenüber an. Wieder kommt die Frau raus und zündet sich eine Zigarette an, dann nickt sie mir fast unmerklich zu und ich nicke zurück.
Alles ist ein perfekter Kreislauf, aus dem es kein Entrinnen gibt; dem einen macht es mehr aus, dem anderen weniger, man verlässt sich auf die Routine, auf die Monotonie, auf das Vergessen.
Großmutter rut mich hinein, um meinen Blutdruck zu messen, und während sie in der Küche meinen Ärmel hochkrempelt und das Gerät am Arm anbringt, sagt sie: « Ich habe gestern mit deiner Mutter geredet. Auf Skype. Eine gute Sache, dieses Skype. Sie hat gesagt, dass der Österreicher, den sie betreut, bald sterben wird. Er ist nur noch Haut und Knochen. Der Österreicher, nicht deine Mutter, obwohl auch sie sehr abgemagert ist. Sie fürchtet sich im großen leeren Haus mit dem A lten allein zu sein, aber sie will bis zum Schluss bleiben. Der Mann kann nicht mehr reden, also sitzt deine Mutter bei ihm und redet mit ihm ein wenig Rumänisch und ein wenig
Deutsch. Sie sagt, dass es egal ist, was man ihm erzählt, Hauptsache, er hört eine menschliche Stimme, die ihn in den Tod begleitet. Sie erzählt ihm auch vom Tod deines Großvaters und deines Vaters, Gott beschütze ihre Seelen. Ich weiß nicht, wieso sie das Bedürfnis hat, einem Sterbenden vom Tod anderer M enschen zu erzählen, aber deine Mutter sagt, dass es ihn trösten könnte. Ich glaube das nicht. Du kannst von so vielen Toten erfahren, wie du willst, sterben musst du immer allein. Nun gut, aber immerhin stirbt der Österreicher mit dem rumänischen Tod im Ohr. »
Sie ist zufrieden mit meiner Gesundheit, sie schiebt meinen Ärmel wieder herab und glättet ihn mit der Hand. Dann streicht sie mir mit ihrem Handrücken über die Wange.
« Du hast dich nicht gut rasiert. Was sollen die Syrer denken, wenn sie tatsächlich eines Tages an der Grenze autauchen und dich so sehen? Dass wir Barbaren sind? »
« Hat sie gesagt, wann sie zurückkommt? »
« Deine Mutter? In ein paar Wochen. Sie will diesmal länger bei uns bleiben; sie sagt, sie hat vorerst genug davon, mit Alten und Kranken zusammen zu sein, von ihnen beschimpt oder belästigt zu werden. »
« Wie werden wir dann wohnen? Hier ist kaum Platz für drei. »
« Sie sagt, dass du jetzt etwas verdienst, zwar nicht viel, als unterster Dienstgrad, aber es ist ein Anfang. Sie will dir aushelfen, damit du dir ein Zimmer mieten kannst. Schließlich solltest du auch mal ein Mädchen einladen können. »
« Ein Mädchen? Woher denn? »
« Na ja, von der anderen Straßenseite. Glaubst du, sie steht wirklich zufällig zur gleichen Zeit auf und geht hinaus, um eine zu rauchen? Wenn du das meinst, kennst du die Frauen nicht. »
« Im Ernst? »
« Sie würde dir auch nicht so verträumt nachschauen, wenn du aus dem Haus gehst. »
« Tut sie das? »
« Und wie. Wenn du nicht willst, dass sie sich bald in einen anderen verguckt, solltest du mal über die Straße gehen, bei ihr klingeln und ein Wort riskieren. »
Ich lache, lege meinen Arm um sie und ziehe sie an mich.
« Buni, was würde ich ohne dich tun? »
Sie versucht, sich aus meiner Umarmung zu befreien.
« Versprich mir lieber, dass du das bald tust. »
Ich lasse sie los und kehre zurück auf den Balkon. Das Licht ist schon stärker, im Westen taucht eine Wolkenfront auf, möglicherweise wird es regnen. Dann würden die Felder aufgeweicht und die Sicht vermindert sein. Es gibt Ganoven, die genau bei solchem Wetter ihr Glück versuchen. Wenn aber ein hetiger Sturm tobt, wenn der Regen in dichten Schauern über der Grenze fällt, laut und fest, dann ist gar nichts zu holen, w eder für uns, noch für die Anderen.
« Versprich es mir », höre ich Großmutter, die hinter mir her gelaufen ist, mit Nachdruck sagen. Es gibt nur ein Thema, das sie ablenken kann.
« Buni, wie steht es mit den paranormalen Phänomenen in unserem Land? Hat sich etwas getan in letzter Zeit? »
« Gut, dass du fragst. Wusstest du, dass es einen Ort in den Karpaten gibt, wo die Menschen klüger sind als sonstwo? Habe ich alles gestern gelesen. Das hat was mit geheimen Strahlungen zu tun, die man dort gefunden hat. »
Im Bus wedelt Nea Nicu mit einem Zettel, den er mir anschließend in die Tasche steckt. Es ist die Telefonnummer einer Firma, die Jobs nach England vermittelt.
« Wenn du dich nicht bald entscheidest, suchen sie gar keinen mehr. Jetzt haben sie noch genug Arbeit. »
« Aber ich bin doch bei der Grenzpolizei. Wenn ich gut genug bin, komme ich auch hier weiter. »
« Junge, du bist doch dort nur gelandet, weil deine Großmutter dich dazu gedrängt hat. Das hast du mir selber gesagt. Sie hatte Angst, dass du sonst kriminell wirst. Aber du bist jung, du solltest die Welt sehen. Dort draußen gibt es viele Chancen. Willst du dein ganzes Leben lang auf einen Streifen Land starren, wo sich nie was ereignet? Willst du dich im Kreis drehen, so wie ich mit meinem Bus? Geh weg, schau dir die Welt an, und wenn sie dir nicht gefällt, komm zurück. »
Ein paar Tage sind vergangen, regnerische Tage, an denen sich nicht einmal der Bahnwärter und seine Hunde aus ihrem Unterschlupf getraut haben. Düstere, dunkle Tage mit einem tiefhängenden Wolkenteppich und mit starkem Wind. Kaum hört der Regen auf, dampt die Erde, richt süß und schwer.
Inzwischen herrscht eine für diese Jahreszeit unübliche Hitze, eine unerträgliche, trockene Wärme wie an der Öfnung eines Ofens.
Badea und ich haben Nachtdienst, wir fahren mit erloschenen Scheinwerfern den Streifen entlang und vertrauen nur auf das Mondlicht. Die frisch ausgebaute Straße ist heller als die sie einrahmenden Felder. In der Nacht gibt es wenig Verkehr an den Grenzübergängen, aber gerade davon versprechen sich manche Schieber mehr Erfolg. Andere ziehen lieber die Stoßzeiten vor.
Wir haben am Abend am Grenzübergang zwei Albaner abgeholt, die sich in einem Lastwagen versteckt haben, und sie zur Zentrale gebracht und einen betrunkenen Fahrer einer Polizeistreife übergeben. Wir haben die Errichtung neuer Stelen überwacht und dafür gesorgt, dass einige Bauern im letzten Tageslicht jene Teile des Grenzstreifens abgemäht haben, die an ihre Felder grenzen.
Badea hat nicht mehr gesprochen als nötig, genau genommen zweimal. Als wir über den Bahnübergang gefahren sind, hat er das Fenster runtergekurbelt, dem Bahnwärter einige Münzen gegeben und ihm zugerufen: « Pass gut auf, dass dich nicht der Tod holt. » Dann hat er noch leise, wie zu sich selbst, hinzugefügt: « Mein Bruder wäre heute so alt wie er. »
« Ich habe gar nicht gewusst, dass Sie einen Bruder haben », habe ich gesagt.
Darauhin hat er wieder geschwiegen. Schweigen ist seine große Stärke. Er kann einen ganzen Tag lang oder sogar mehrere Tage schweigen, bis auf die üblichen Gespräche mit der Zentrale oder die Befehle, die er mir gibt, obwohl wir den gleichen Dienstgrad haben. Ich füge mich, denn er tut es mit der Gelassenheit desjenigen, der über fünfunddreißig Jahre Berufserfahrung im Rücken hat.
Als wir unser Versteck im Wäldchen erreicht haben, ist er ausgestiegen, hat einen Augenblick lang durch sein Nachtsichtgerät geschaut, es dann weggelegt und sich eine Zigarette angezündet. Er macht einige Schritte vors Auto und bleibt mit dem Rücken zu mir stehen. Die Nacht ist so still, dass ich gut hören kann, was er sagt.
« Noch im März sind dort draußen Tausende an uns vorbeigezogen. Und wie viele sind bei uns gelandet? » Ich steige ebenfalls aus und stelle mich neben ihn.
« Zwanzig », glaube ich.
« Zwanzig. Was war das für eine Aufregung! Zwanzig arme Schweine, wer weiß, wo die jetzt sind. »
« Wo sollen sie schon sein? In Deutschland, falls die Ungarn sie durchgelassen haben. »
« Ist deine Mutter nicht in Deutschland? »
« In Österreich, aber von dort ist es nicht weit bis nach Deutschland. Und auch in die Schweiz kommt man schnell. Das ist wie bei uns in Beba Veche. Wenn du dich dort beeilst, kannst du in fünf Minuten in Ungarn, in Serbien und bei uns sein. »
Er nimmt einen krätigen Zug von der Zigarette, dann hält er mir die Packung hin. Ich bin es gewohnt, mich im Dunkeln zu orientieren. Ich zupfe eine Zigarette heraus, er sagt: « Dreh dich um, wenn du sie anzündest, sonst sehen sie dich », er deutet mit dem Kopf auf die Felder vor uns, « und wir können für heute gleich einpacken. » Er macht eine kurze Pause. « Wenn da überhaupt jemand ist, dort draußen. »
Er kehrt zum Streifenwagen zurück, schnappt sich das F unkgerät und rut die Zentrale an.
« Sagt mal, tut sich was auf dem Streifen, oder stehen wir nur blöd herum? »
« Du brauchst nicht zu brüllen, Badea. Wir hören dich gut. Negativ, keine Bewegung auf dem Streifen. Keine Wärmequellen, bis auf euch zwei. Eine ruhige Nacht. Beendet eure Kontrollfahrt und kommt zurück. »
Badea kommt wieder nach vorne, wir stehen hinter der letzten Baumreihe vor dem Feld, auf dem nur Gestrüpp und ein w enig Mais wachsen, aber um diese Jahreszeit ist er nicht hoch genug gewachsen, und wir können den Grenzstreifen dahinter gut sehen. Wind zieht auf und biegt die Ähren, während ein leises Rascheln durch das Feld zieht. Badea holt das Nachtsichtgerät und setzt es wieder auf. Er späht aufmerksam in den Raum vor uns, der nur vom Mondlicht beleuchtet wird.
« Nichts », murmelt er und legt die Brille ab. « Manchmal habe ich, wenn wir hier stehen, das Gefühl, dass es die Welt gar nicht gibt. »
« Hm, hm », antworte ich, überrascht von der Mitteilsamkeit meines Begleiters.
« Bald sind das Gestrüpp und der Mais so hoch, dass wir den Streifen gar nicht mehr sehen. Vergiss nicht in einigen Tagen den Bauer zu holen, damit der das wegmacht. Und er soll auch das Gras auf dem Streifen mähen. » Ich fasse mir ein Herz.
« Badea, ich wusste gar nicht, dass Sie einen Bruder haben. » Er dreht sich zu mir um und mustert mich eindringlich.
« Wer sagt das? »
« Sie. Sie haben gesagt, dass der Bahnwärter dasselbe Alter hat wie Ihr Bruder. »
« Mein Bruder ist tot, aber darüber weiß kaum wer Bescheid. Lass uns in die Zentrale fahren und Kafee trinken. Die Nacht ist lang. »
Wir haben uns schon von der Grenze abgewandt und sind einige Schritte auf das Auto zugelaufen, als er plötzlich stehenbleibt und sich umdreht. Er streckt den Arm aus und weist auf einen Punkt draußen in der Dunkelheit.
« Du weißt, wo der Wachturm steht, keine hundert Meter von hier. »
« Natürlich. »
« Er wird heute nicht mehr benutzt, aber damals, unter den Kommunisten, stand immer ein Soldat dort oben und bewachte den Abschnitt. Am häuigsten versuchten die Leute in mondlosen Nächten über die Grenze zu gehen. Allein oder in Gruppen. In diesem Wäldchen haben sie ot eine Pause gemacht und herauszuinden versucht, ob der Wachturm besetzt war oder nicht. Das war immer das Spiel: Wer hielt länger still, der Soldat dort oben oder die Republiklüchtlinge hier u nten? Wer war geduldiger? Für den Soldaten war es einfacher, er hatte sowieso nichts anderes zu tun. Das war sein Autrag. Die Flüchtlinge mussten sich aber irgendwann bewegen, wenn sie vor Sonnenaufgang drüben sein wollten. Sie mussten allen Mut zusammennehmen und den ersten Schritt machen. »
Badea hält inne und knöpt die obersten Hemdknöpfe auf, als bräuchte er Lut zum Atmen.
« Wieso erzählen Sie mir das alles? »
« Du hast nach meinem Bruder gefragt. »
« Ja, hab ich. »
« Also musst du die ganze Geschichte hören. Mein Bruder wollte auch hier durch und hote, dass es in jener Nacht regnen würde oder zumindest der Himmel bedeckt sein würde. Aber auf die Wettervorhersagen konnte man sich nie verlassen. Er hat hier lange gewartet und den Turm beobachtet, von dem kein Geräusch kam. Es war eine sternenklare Nacht. Dann hat er sich entschlossen, sein Versteck zu verlassen. Zuerst ist auch nichts passiert, also hat er wieder ein paar Schritte gemacht und sich geduckt. Das hat er mehrmals getan, aber der Soldat hatte alles gesehen, er war geduldiger und er hat gewonnen. Mein Bruder ist ihm direkt in die Arme gelaufen, oder soll ich besser sagen: in den Gewehrlauf? Der Soldat hatte sein Versteck verlassen und war hinuntergestiegen. Mein Bruder lehte ihn an, ihn laufen zu lassen, der Soldat hätte bis zum Eintrefen der anderen genug Zeit gehabt, aber der Soldat war unerbittlich. Er war jung, er glaubte an seinen Autrag, die Landesgrenze zu schützen und Fliehende zu verhaten, das Flehen seines Bruders hat ihn kalt gelassen . . . »
Er unterbricht seine Erzählung und kommt nicht mehr d arauf zurück. Nicht in jener Nacht und nicht an den folgenden Tagen. Manchmal schaue ich ihn im Auto von der Seite an und zweifele an seiner Version. Ein solcher Verrat ist schwer vorstellbar.
Der Grenzverlauf in unserem Abschnitt ist launig, er zieht sich an Bächen und Wäldchen entlang und windet sich wie eine Schlange durch die Landschat. Manchmal stößt die Grenze für einige Hundert Meter nach Serbien vor, dann wechselt sie wieder die Richtung, nach Norden. Manchmal gleicht sie einer Welle, dann wieder dem Zahn eines Wasserrades. Sie zieht sich ot in die Tiefe des Raums zurück, nur um sich etwas später wieder den Dörfern zu nähern und gleich hinter den Höfen zu verlaufen.
Am Dorfausgang von Beba Veche steht ein Schlagbaum, man kann um ihn herumgehen, dann erreicht man eine kleine Brücke. Dort teilt sich der Weg, links geht es nach Serbien, rechts nach Ungarn und hinter einem liegt Rumänien. Aber an jener Kreuzung dreier Feldwege, an jenem Knoten, ist nichts. Es ist das Niemandsland, eine Anomalie. Sie gehört niemandem, und niemand beansprucht sie.
Irgendwo beginnt Serbien, irgendwo endet Ungarn, auch dort stehen Schlagbäume. Wären sie nah genug und würden sich ihre Enden berühren, würden sie ein perfektes Dreieck formen. Im Dreieck wäre man im kleinsten Nirgends.
Wenn Badea und ich dort patrouillieren, stellen wir das Auto hinter der Absperrung ab und ziehen zu Fuß weiter. Ich lasse ihn immer vorangehen, bis ich ihn nicht mehr sehen kann.
Manchmal kehrt er zurück und sagt: « Willst du wieder im Bermuda­Dreieck stehenbleiben? Dann bleib hier, aber dass du mir nicht verschwindest! »
Für kurze Zeit bin ich dann allein. Ein Storchenpaar – immer dasselbe, denken wir – nistet im Dreieck. Von weit her ist das Murmeln eines Flusses zu hören, außer im Hochsommer, wenn er gar kein Wasser führt. Nur Kinder fahren dann und wann auf Fahrrädern vorbei, nur sie dürfen im Fluss baden und angeln. Meistens bin ich – bis auf die Störche – für Augenblicke der einzige Bewohner eines Landstücks, das etwa viermal so groß ist wie unsere Wohnung oder wie Nea Nicus Bus.
Das Warten darauf, dass sich irgendetwas ereignet, kommt dann doch noch zu einem Ende. Wir sind von einer Inspektion der Grenze bei Beba Veche zurückgekehrt, haben uns in unserem Wäldchen Zigaretten angezündet und gucken abwechselnd durch das Nachtsichtgerät. Badea beendet sein Schweigen, das uns schon den ganzen Abend begleitet hat.
« Da stehen wir also wieder. »
Ich nicke und bin mir sicher, dass er die Bewegung sehen kann. Wir sind zwei gut an die Dunkelheit angepasste Nachtwesen.
« Und wieder tut sich nichts. » Ich nicke wieder.
« Wer will schon zu uns? Zu uns keiner, alle wollen nach
Deutschland. »
« Ich könnte nach England fahren. Ich hätte dort Arbeit. »
« Du also auch . . . Nun, ich kann es dir nicht verübeln. Bei mir passiert nicht mehr viel, in vier Jahren habe ich alles hinter mir.
Du aber bist jung. » Wir schweigen.
« Wenn ich deine Möglichkeiten gehabt hätte, als ich jung war. »
« Hatten Sie nicht die Möglichkeit, ihn laufen zu lassen? » « Wovon redest du? »
« Von Ihrem Bruder. »
« Er ist in der Hat gestorben. »
« Wieso haben Sie mir die Geschichte erzählt? »
« Was weiß ich, wieso. Mir war danach. »
« Haben Sie keine Angst, dass andere es erfahren? »
« Du hältst mein Schweigen seit Jahren aus, also kannst auch du dich ausschweigen. Außerdem wissen es unsere Chefs schon. »
« Ist das der Grund, wieso Sie nie befördert worden sind? »
« Das ist der Grund, wieso ich es immer abgelehnt habe. »
In jenem Augenblick erstarrt er, wie ein Jagdhund, der eine frische Fährte gerochen hat. Ich kenne das von ihm. Sein Körper wirkt noch kompakter, während der stechende Blick eine Stelle in der Landschat ixiert, die er für verdächtig hält. Der alte Instinkt des Grenzwächters übernimmt von einer Sekunde auf die andere die Kontrolle. Er blickt durch das Nachtsichtgerät und zischt zwischen den zusammengepressten Lippen hindurch:
« Direkt vor uns, auf zehn Uhr. Keine hundert Schritte von hier. Ich habe ein Flackern gesehen wie von einem Streichholz oder einem Feuerzeug. » Es dauert nicht lange, und er beginnt zu luchen: « Verdammt, man kann kaum was erkennen. Habe ich dir nicht gesagt, du sollst melden, dass alles abgemäht wird? Halb Syrien könnte sich dort verstecken, und wir würden es nicht merken. »
Unzufrieden schnalzt er mit der Zunge, drückt mir das Gerät in die Hand, steigt ins Auto und rut die Zentrale an:
« Nein, wir sehen nichts. Vor ein paar Minuten sind dort e inige Tiere durchgezogen, aber das ist schon alles. Gute Nacht. »
Kaum hat Badea wieder Position bezogen und erneut mit dem Fluchen angefangen, hören wir das Klingeln des Funks.
« Na also, jetzt haben sie bestimmt was entdeckt. »
Er eilt zum Wagen, ich höre ihn ein paar Mal: « Ich verstehe » und: « Wird erledigt » sagen, dann legt er auf und bleibt für eine Weile stumm.
« Doch nichts? »
« Der Bahnwärter ist tot. Wer weiß, wieso er sich in der Nacht auf der Trasse herumgetrieben hat. Er hat so viele Züge überlebt und jetzt hat ihn ein Lastwagen erwischt. Einer muss hin und die Hunde erschießen. Sie lassen keinen an ihn ran. Man muss den Bahnübergang wieder freigeben, sonst kann der Zug nicht durchfahren. Jetzt ist er in Jimbolia blockiert. Wir sind die einzige Patrouille, die in der Nähe ist. » Ich atme tief ein.
« Ich bleibe lieber hier. Wer weiß, ob Sie nicht doch recht hatten, und jemand versteckt sich dort draußen. »
« Aber spiele nicht den Helden. Wenn sich etwas tut, meldest du es sofort und bleibst im Versteck. Hier hast du Wasser, den Funk und eine Laterne. Spätestens in einer Stunde bin ich zurück. »
Er fährt rückwärts aus dem Wäldchen, biegt auf die Straße und verschwindet in der Nacht. Ich bleibe in der Stille zurück.
In manchen Nächten wirkt alles dort draußen gespenstisch. Es liegt am Mondlicht, welches das Land grell ausleuchtet und der Landschat geheimnisvolle Schatten und Konturen verleiht. Ich stehe auf der weiten Scholle und denke, dass man geradeaus marschieren und die Welt umrunden kann, ohne auf ein einziges Hindernis zu stoßen.
Es ist, als ob nichts ein Ende oder einen Anfang hätte. Alles ist ohne Umriss, ohne Gewicht, ohne Übergang. Doch dieser Zustand dauert nie lang, denn im Dunkeln ist auch der Grenzstreifen da, stumm. Man kann über ihn hinwegschauen, man kann ihm den Rücken kehren, aber er ist immer da. Er hat seine e igene Anziehungskrat, in jener Gegend war er das einzig Gewisse. Ihm dienen wir.
Ich nehme mir vor, während Badeas Abwesenheit darüber nachzudenken, was ich mit meinem Leben anfangen will. Ob ich in der englischen Erde buddeln, oder auf dieser Erde hier stehen und ins Dunkel starren soll. Ob ich die wenigen Meter über die Straße gehen soll, wie Großmutter gemeint hat.
Ich komme aber nicht zum Denken, denn das Aulackern, das Badea wahrgenommen hat, wiederholt sich, diesmal nur einen Steinwurf entfernt. Ich gehe in Deckung und taste instinktiv nach meinem Pistolenhalter. Ich lausche angespannt, ob ich gepresste Stimmen oder Schritte höre, und tatsächlich ist da jemand, der sich auf mich zu bewegt, sich aber noch im serbischen Maisfeld jenseits des Streifens beindet. Dann taucht eine Gestalt auf, die mit einem Sack beladen ist, und humpelt über den Streifen, direkt auf mein Versteck zu. Sie hält inne, beleuchtet kurz ihren Weg mit dem Handy, dann setzt sie sich wieder in Bewegung.
Wie leichtsinnig, denke ich. Sie läut mir ja direkt in die Arme.
Nur noch wenige Schritte und sie wird direkt vor dem Wäldchen stehen, ohne die Möglichkeit sich zu verstecken. Erst jetzt erkenne ich, dass es ein Mann ist. « Komm doch näher », lüstere ich. Uns trennen nur noch zehn oder fünfzehn Meter, er setzt den Sack ab, streckt sich und sucht, wie mir scheint, eine Öfnung zwischen den Bäumen, um in das Wäldchen einzutauchen. Dort wird es viel schwieriger sein, ihm das Handwerk zu legen. Ich ziehe die Pistole, richte das Laternenlicht auf ihn und rufe: « Stai! Maˆinile sus și în genunchi! »
Der Mensch beginnt zu jammern und in einer Sprache zu reden, die ich nicht erkenne. Obwohl er mich ofensichtlich nicht verstanden hat und stehenbleibt, anstatt niederzuknien, hebt er die Hände. Er spricht unentwegt in einem Gemisch aus A rabisch und Englisch, das habe ich inzwischen begrifen. Auf Englisch wiederhole ich, dass er niederknien müsse, was er s ofort tut.
« Wie heißen Sie? »
« Halim. Nicht schießen, ich nicht gefährlich. » Er spricht jetzt nur noch gebrochen Englisch.
« Das sagen alle. Aus Syrien? »
« Ungarn. Sie mich erwischt und zurück nach Serbien gebracht. Die Serben mich in ein Lager gesteckt, aber von dort ich weggelaufen. »
« Und was suchen Sie hier? »
« Weg nach Deutschland. Ich glaube, viele Tage im Kreis gehen. Wo ich hier? »
« In der Republik Rumänien. Sie sind illegal über die Grenze.
Ich muss Sie verhaten. Hände oben lassen. Ich muss sie sehen. »
Ich brauche nur wenige Schritte, um bei ihm zu sein. Im Licht erkenne ich ein müdes, abgemagertes, unrasiertes Gesicht. Ein Allerweltsgesicht. Ein Mann, der nicht älter ist als ich, ein durchschnittlicher Mensch, barfuß und ungewaschen, in schmutzigen, löchrigen Kleidern. Ich lege die Laterne ab und hole den Funk, während ich meine Wafe immer noch auf ihn gerichtet halte.
« Bitte, mich gehen lassen », wimmert er. « Keine Probleme. Ich gehen einfach zurück. »
Auf Knien nähert er sich mir, sodass ich zurückweichen muss.
« Ich muss es melden. »
« Aber ich will nicht Rumänien. Rumänien nicht gut. Ich
Deutschland. »
« Das wollen wir alle, früher oder später. Ruhig jetzt. »
Der Nachtoizier antwortet, und ich melde ihm nicht ohne Stolz einen illegalen Grenzübertritt, den ich aber gestoppt, verhindert, gestoppt und verhindert habe.
« Hast du ihn jetzt verhindert oder gestoppt? », fragt der Mann spöttisch nach. « So wie ich es an deinem Wärmebild ablesen kann, bist du nicht auf dem Streifen, sondern am Waldrand. »
« So ist es. Ich habe ihn hier aufgegrifen. »
« Dann hast du ihn nicht verhindert, sondern gestoppt. »
« Gestoppt oder verhindert, das ist doch einerlei. Der Mann steht vor mir, und jemand muss kommen und ihn abholen. » Am anderen Ende wird es still.
« Wo sagst du, dass du dich beindest? »
« Vor dem Wäldchen. Sie können mich doch sehen. »
« Ja, dich kann ich sehen. Beweg dich ein wenig. » Ich tue, wie geheißen.
« Ja, klar und deutlich. Aber außer dir ist niemand mehr zu sehen. Die einzige Wärmequelle weit und breit bist du. »
« Aber wenn er doch vor mir steht! »
« Jetzt hör mir mal gut zu. Meine Geräte hier sagen, dass du dort draußen ganz allein bist. Meine Geräte stammen aus Deutschland und wenn meine Geräte sagen, dass dort niemand ist, dann ist dort niemand. Den deutschen Geräten traue ich mehr als deinen rumänischen Augen. »
« Aber . . . »
« Hör auf mit deinen Witzen, sonst kriegst du einen Verweis. Warte, bis Badea zurückkommt, dann meldet euch wieder bei mir. Fertig. » Und er legt auf.
Erstaunt und ungläubig schaue ich zu meinem Gefangenen hinüber und leuchte ihn wieder an, als wolle ich mich vergewissern, dass es ihn wirklich gibt. Mit der einen Hand reibe ich mir das Gesicht und will wieder anrufen, verzichte dann aber lieber darauf. Ich werde warten, bis Badea zurückkommt.
In diesem Augenblick beginnt der Mann erneut zu jammern, wirt sich auf den Boden und raut sich die Haare. Er hämmert mit seinen Fäusten auf die Erde.

« Was soll das? », sage ich. « Beruhigen Sie sich. »
Er scheint jedoch jede Vernunt abgelegt zu haben, Gott und die Welt für sein Schicksal zu bezichtigen und zu verluchen. Er schlägt sich auf die Brust, legt sich der Länge nach hin, seine Stimme wird erschöpter und gebrochener. Noch nie habe ich so wenig verstanden und doch so viel. Schließlich, als ihn die Kräte verlassen, bleibt er einfach liegen. Ich ringe mit mir, denn auf der einen Seite will ich nach ihm schauen, auf der anderen aber muss ich vorsichtig bleiben. Ein Mann wie er, zu allem entschlossen, würde mir auch die Wafe ent reißen wollen. Und wenn er doch etwas im Schilde führt, wenn er gelernt hat, sich zu verstellen, wenn er vielleicht darauf aus ist zu töten? Man hat uns ja gewarnt.

Er schluchzt noch eine Weile, dann wird er still, er richtet sich auf.
« Alles ok? Keine Angst, wir behandeln dich gut. »
Aus den Dörfern hört man Hundegebell. Er rührt sich nicht. Verdammt, was mache ich jetzt, denke ich. « Du hast sicher Durst. Ich habe Wasser. » Ich werfe ihm die Flasche vor die Füße.
Allmählich kommt wieder Leben in seinen Körper, er reibt sich mit beiden Händen das Gesicht, wie wenn er aus einem b ösen Traum erwachen wolle. Er seufzt laut, dann beruhigt er sich wieder.

« Trink. »
« Keine Durst. »
« Was ist im Sack? »
« Essen. Kleider. » « Hast du eine Wafe? » Er beginnt zu lachen.
« Wafe, verstehst du? »
« Verstehen. » Er schüttelt den Kopf. « Wirf mir den Sack zu. » Das tut er.
« Bist du allein, oder sind noch andere da? »
« Ich sehr einsamer Mensch », sagt er mit erloschener Stimme.
Ich richte das Licht auf das angrenzende Feld, aber ich kann nichts Verdächtiges erkennen.
« Deine Füße bluten. Wo sind deine Schuhe? »
« Auf dem Weg gestohlen. Ich laufe seit Tagen ohne. »
« So inizieren sich die Wunden. Nimm Wasser und mach sie sauber. Wir verarzten dich später in der Zentrale. »
« Aber ich nicht Zentrale, ich Deutschland. »
« Mit solchen Füßen kommst du nicht weit. »
« Wenn ich aufstehen und langsam zurückgehen, du schießen? »
« Ich muss dir auf die Beine schießen. »
Er greit nach der Flasche und trinkt. Inzwischen habe ich mich in einiger Entfernung von ihm hingesetzt. Ich beleuchte meine Uhr, in spätestens dreißig Minuten wird Badea wieder hier sein und wissen, was zu tun ist.
« Du fragen viel », sagt er nach einiger Zeit. « Hast du ein Gesicht? »
Ich halte die Laterne so, dass er mich sehen kann. « Du bist jung », sagt er.
« Sechsundzwanzig. »
« Ich ein Jahr mehr. Du schon kämpfen? Im Krieg? »
« Hier ist kein Krieg. »
« Ich auch nicht kämpfen, obwohl sie wollen. Aber ich Koch, ich kann gut kochen. Ich ihnen sagen: ‹Wieso kämpfen, wenn man gut essen kann?› »
« Wem hast du das gesagt? »
« Ich nicht genau kennen. Männer in mein Haus. Sie sagen, sie töten mich, meine Frau und meine Tochter. Sie sagen, ich muss kämpfen. »
« Und was hast du getan? »
« Ich gut kochen für sie. Sie bringen alles, was ich brauchen, dann ich mache Tisqiye und Maqdous, nach Rezept von Großmutter, und Mahshi und Mlukhiye. Wir sagen bei uns: Mlukhiye ist Essen von Gott. Sie so viel gegessen, dass sie müde und schlafen. Sehr tief schlafen. Meine Frau und ich und Tochter durch Fenster raus, dann wir laufen los. Viel laufen. Kein Ende. »
« Wo ist deine Frau? Dein Kind? Im Feld? » Ich leuchte über das Feld in seinem Rücken. « Sie können rauskommen. Es passiert Ihnen nichts. »
Er schweigt weiter.
« Sie sind nicht da? » Ich ixiere sein Gesicht.
« Hast du Hunger? », fragt er. « Im Sack altes Brot von einem Bauer und paar Äpfel. Wir teilen, ja? »
Ich wühle in seinen Sachen herum und werfe ihm Brot und Äpfel zu.
« Ich darf nichts nehmen », sage ich.
« Aber du hast sicher Hunger. »
Er bricht den Brotlaib über dem Knie und wirt mir ein Stück davon und einen Apfel zu.
« Du essen. Nicht Git. Wenn Essen Geschenk, immer muss essen. »
Langsam ziehe ich das Brotstück und den Apfel zu mir, putze den Apfel an der Hose ab und beiße hinein.
« Du Familie, Frau, Kind? »
« Meine Mutter ist in Österreich und die Großmutter zu
Hause. Die Großmutter kocht auch gut. Mutter nicht. »
« Was rumänisch kochen? »
« Sarmale zum Beispiel. »
« Ich kenne das. Ich machen das auch. Türkisch. »
« Auch Ciorbă? »
« Auch. Ich Restaurant in Rumänien machen. »
« Siehst du? Rumänien ist nicht so schlecht. »
« Noch nie viel gehört von diesem Land. »
« Ich von deinem auch nicht. Nur vom Krieg. »
« Du kennen Deutschland? »
« Nein. Aber viele von hier sind dort. »
« Wieso ich dann hier, wenn alle Deutschland? »
« Ich will vielleicht nach England. »
« Ach, England auch gut. London, große Stadt, viel Arbeit, FC Liverpool, aber Essen schlecht. »
« Ich bin mehr für Manchester United. » Ich halte inne.
« Wo ist deine Frau? »

Er schweigt ein paar Minuten, scheint mit sich selbst zu ringen, doch dann überwindet er sich:
« Kennst Du Izmir? Türkisch Stadt. Viele Syrer, von dort Boot nach Lesbos, Griechenland. Ich arbeite als Koch in Izmir, kein gutes Leben, aber Leben. Türken nicht lieben Syrer, wir nehmen Arbeit weg, arbeiten billiger, viele Probleme. Drohung, böse B licke, schlafen in Zelt. Ich rede mit Frau, ich sage, Deutschland gut, sie sagt, aber nicht Zuhause, ich sage, Zuhause tot, besser Deutschland, ich verspreche Frau Deutschland gut, wir reden viel, ganze Nacht, viele Nacht, dann ich entscheide. Ich Mann, ich muss entscheiden, Frau muss akzeptieren. Wir kaufen drei Schwimmwesten und zahlen tausendfünhundert Dollar, oneive­zero­zero, für Platz im Boot. Boot schlecht, Schwimmwesten schlecht, tot. Tot! » Wir schweigen eine Weile. « Jetzt ich gehe allein Deutschland. Muss Deutschland. Muss. Für Frau und Kind muss. » Er schweigt kurz. « Lass mich gehen. » « Es geht nicht. »
« Wenn ich koche für dich, du andere Meinung. » Ich lächele.
« Ja, vielleicht. »
In der Stille der Nacht hört man von fern Motorengeräusche.
Er steht auf und gibt mir ein Zeichen. Auch ich stehe auf, mache einige Schritte auf ihn zu und strecke ihm den Sack mit seinen Habseligkeiten entgegen.
« Du schießen, kein Problem. »

Das Auto, noch unsichtbar, kommt immer näher. Badea hat nicht mehr als zweihundert Meter vor sich, bevor er ins Wäldchen einbiegen wird. Ich weiß, dass er auf diese Entfernung das Laternenlicht sehen kann, also schalte ich es aus. Als Halim den Sack auf seine Schulter lädt, halte ich ihn am Ärmel fest, und er erschrickt. Ich schnüre in Eile meine Schuhe auf und gebe sie ihm.

« Nimm sie. Vielleicht passen sie. »
Es dauert nur Sekunden und das Feld, die Nacht, die Erde h aben ihn verschluckt, als hätte es ihn nie gegeben. Badea hat inzwischen angehalten, hat in der Dunkelheit meine Gestalt entdeckt und mir befohlen, Licht zu machen. Er mustert mich von oben bis unten, während ich auf ihn zugehe.
« Ich war schnell in der Zentrale. Ich habe gehört, dass du Gespenster siehst. Vielleicht sollte ich dich nicht mehr so allein lassen. In solch einer Nacht kann man sich allerlei einbilden. »
Er schaut plötzlich verdutzt auf meine Füße, reißt mir die Laterne aus der Hand und beleuchtet sie.
« Wo sind deine Schuhe, Grenzpolizist Şerban? »
« Meine Schuhe, Grenzpolizist Badea? »
« Sagte ich schon, deine Schuhe. Die mit EU­Geldern bezahlt worden sind. Wo sind sie? »
Ich blicke über meine Schultern.
« Sie sind . . . womöglich . . . unterwegs nach Deutschland. »