Ottava edizione 2015 • premio speciale Cassa Rurale

Auf der anderen Seite

Mario Rumor • Übersetzungen von Juliana De Angelis

Mario Rumor

Ich bin 1973 in Feltre (Provinz Belluno) geboren. Ich habe am DAMS-Institut für Kunstgeschichte, Musik-, Theater- und Filmwissenschaften der Universität Bologna studiert, und dort meine ersten Schritte in der Verlagswelt gemacht, indem ich Artikel und Rezensionen schrieb. Diese Tätigkeit habe ich auch danach, im Rahmen zahlreicher Aufträge und Zusammenarbeiten mit italienischen und ausländischen Zeitschriften, fortgeführt. Zur Leidenschaft fürs Schreiben hat sich die Liebe für das Kino gesellt: Ich habe Essays veröffentlicht sowie hunderte Artikel und Interviews für Zeitschriften geschrieben, u.a. „Empire“, „Just Cinema“, „Widescreen Magazine“. Seit 2009 zähle ich zu den Kino- und Fernsehkritikern der historischen Monatszeitschrift „Il Mucchio selvaggio“, für die ich mich gelegentlich auch mit Büchern und Comics befasse. Im Juni dieses Jahres habe ich mit der Erzählung „Notizie da un uomo vecchio“ den Nationalen Literaturpreis „Trichiana - Paese del libro“ gewonnen.

BegrÜndung der Jury

Mit der Gabe der figürlichen Phantasie ausgestattet, die eine gute Erzählung an den Tag zu bringen vermag, hat "Auf der anderen Seite" die Jury überzeugen können, vor allem aufgrund des szenischen Hintergrunds. In der hier beschriebenen Welt herrscht eine dünne Luft, einem Traum ähnlich. Eine Welt, in der "die Menschen die einfachsten Emotionen meiden". Etwas verwirrt bewegt sich darin ein nach Italien übergesiedelter Inder, der auf einem Damenfahrrad durch die Straßen radelt. Er ist still, unsicher. All das, was er um sich herum sieht, ist eine "Vortäuschung" von Glück; in seinem Herzen empfindet er starke Sehnsucht nach seinem Indien, das zu weit entfernt ist und dem er stark nachtrauert. Alles ist nur angedeutet in diesem sanften Apolog, der von Einsamkeit und Entfremdung berichtet, ohne dass die zart nuancierten Atmosphären kräftigere Töne annehmen. Denn jedes Detail spricht ohne zu viele Worte zu verschwenden, und trägt dabei zu einem eleganten Gleichgewicht zwischen Traum und Wirklichkeit, Hoffnung und Kapitulation bei.

IL RACCONTO

Normalerweise kommt man dort bei Ebbe an. Asif aber weiß das nicht. Er weiß noch sehr wenig über jenen Ort und den Karmesinroten Palast, der in der Ferne emporragt. Während er einige Schritte vom Strand in Richtung des menschenleeren Platzes zurücklegt, treibt ihn die Brise sanft in jene Richtung. Der Himmel ist wolkenfrei. Er zeigt sich in einem vorschriftsmäßigen Blau. Betrachtet man ihn mit etwas mehr Aufmerksamkeit, könnte man jedoch einwenden, dass sich in seinen in die Unendlichkeit gespannten Stoff sogar goldfarbige Maschen eingefädelt haben. Der junge Mann hebt die Schultern. Er fühlt sich keineswegs bekümmert, dennoch erinnert er sich kaum an die Momente vor seiner Ankunft an der Küste. Er versucht, die Gedanken festzuhalten, aber sie entweichen in alle Richtungen. Er hat fast das Gefühl, sie außerhalb seiner selbst an jenem stillen Strand wachsen zu sehen. Die Flut hat noch nicht ihren Höhepunkt erreicht, und der Wind fährt unter die Kleidung und verleiht ihm dabei ein Gefühl der Gelassenheit.

Die Lage sieht mehr oder weniger so aus: Asim ist dreißig Jahre alt und träumt gerade. Er ist von Indien nach Italien gekommen, auf der Suche nach einem neuen Leben. Er hat dieselben traurigen Augen wie bei seiner Abreise. Aber ein Mann wie er kann sich nicht den Verlockungen der Tränen hingeben. Das hatte ihm seine Mutter gesagt, kurz bevor sie ihm die winzige Reisetasche in die Hand drückte. Er teilt sich eine Zweizimmerwohnung mit einigen Landsleuten und hat einen seltsamen Job: Er teilt Werbeflyer aus. Er fährt auf einem Damenfahrrad mit kleinen Rädern durch die Stadt und steckt die Flyer in Briefkästen. Manchmal beklagen sich die Leute, weil sie es nicht mögen, wenn sich all das überflüssige Papier ansammelt. Dann entschuldigt er sich und denkt, dass seine Arbeit vielleicht völlig unnütz ist. Meistens bleibt er aber in den Augen der Menschen unsichtbar.

Als er den Strand hinter sich lässt, hat der Wind aufgehört zu wehen. Widerwillig schaut er sich um; er will sehen, ob er allein ist. Vor ihm breiten sich steile Wege aus, die überall hinführen. Sie sind von einer dichten Vegetation in einem konfusen Wirrwarr von Grüntönen begrenzt. Asim hört das Geräusch des Meeres nicht mehr. Mit wenigen Schritten hat er schon eine gute Strecke zurückgelegt. Die Kuppel des Palastes erhebt sich in nicht allzu großer Ferne, und er ist sicher, sie erreichen zu können. Jener Ort gibt ihm ein Heimatgefühl, doch es ist nicht die Heimat. Asim hat keine Ahnung von dem, was passieren wird. Er fühlt sich federleicht, während er einen Fuß vor den anderen setzt. Er kann sich nicht erinnern, eine bestimmte Richtung eingeschlagen zu haben: Er war schon unterwegs, bevor er es überhaupt merkte.
Asim liebt „sein“ Fahrrad. Er tritt kräftig in die Pedale und sieht sich als freien Menschen. Vorerst denkt er nicht daran, die Arbeit kommt zuerst. Er denkt abends daran, wenn sein Gesicht im Kissen versinkt. Er traut sich nicht, es seinen Landsleuten zu gestehen, aus Angst davor, ausgelacht zu werden. Einige von ihnen machen dieselbe Arbeit wie er und sehen aus wie Roboter mit einem Akku auf dem Rücken. Wenn ein Papierstoß abgearbeitet ist, laden sie schon den nächsten in den Korb und fahren wieder los. Jeden Tag legen sie viele Kilometer zurück, steigen vom Fahrrad ab und dann wieder auf, nachdem sie die Prospekteausgeteilt haben. Er hingegen reitet den Wind, er fährt kreuz und quer durch das Netz an befahrbaren Straßen ohne zu beachten, wo er landen wird. Er genießt jeden Augenblick. Sich in diesen Kleinstädten zu verirren, ist sogar spannend. Du bist eh unsichtbar, denkt sich Asim.
Er ist überrascht, als er in das winzige Dorf einfährt. Der Boden ist ockerfarben. Eine ihm vertraute Farbe, die Sehnsucht entfacht. Die Hütten sind am Rande des Dschungels gebaut: so nah und schief, dass sie einem Auswuchs des Urwalds aus Ziegeln und Lehm gleichen. Asim spürt, wie ihm jemand leicht auf die Schulter tippt. Ein alter Mann sieht ihn an, lächelt ihm mit seinem zahnlosen Mund zu und versucht dabei, ihm etwas zu sagen: Asim, sagt er. Es ist sein Name, klar, aber es bedeutet auch „ohne Grenzen“, und das ist es, was sein Gegenüber sagen will. Dann schüttelt der Alte den Stock, den er bei sich hat und macht sich daran, etwas in den dunklen Boden einzuritzen. Einen Augenblick lang meint der junge Mann, ein Mandala vor sich zu sehen, das sein ganzes Leben, getrieben von unkontrollierter Rastlosigkeit, darstellt. Ist das nicht etwa der Grund, weswegen er das Dorf verlassen hat? Doch das Bild nimmt die Umrisse von etwas an, an das sich Asim schon nicht mehr erinnern kann (selbstverständlich ist es eine Kuppel). Mit einer freundlichen Geste bedeutet ihm der Alte, seine Reise fortzusetzen. Sobald er sich umdreht, um sich zu bedanken – Namasté – hat sich die Landschaft jedoch verwandelt.

Jedesmal, wenn er zu Mittag isst, hat er eine halbe Stunde freie Zeit vor sich. Er öffnet das Papier, in das sein Brötchen gewickelt ist und sucht immer dort Zuflucht, wo der Asphalt endet und auf den weichen Grasteppich einer Grünfläche trifft. Der Mann zieht seine flachen Sportschuhe aus und setzt sich würdevoll ins Gras. Das erste Gefühl, das ihn überkommt, ist Gelassenheit; es gibt immer mehr Menschen, die aus Orten wie jenem flüchten um sich in sozial chaotischere Umstände und Situationen zu stürzen. Brunchs, Aperitifs, beiläufig eingenommene Mahlzeiten, bei denen die Diskussionen des Chefs verfolgt werden. Asim liebt es, von Menschen umgeben zu sein, aber in diesem Moment leidet er nicht unter Einsamkeit. Nicht einmal in diesem Land, das so weit weg von zuhause ist. Aber er hat sich daran gewöhnt: Er ist die Null. Nur mit Mühe wird es ihm je gelingen, eine Primzahl zu werden. Wenn er sich stolz im Spiegel betrachtet, erklärt er: Ich bin Asim, der Inder. Wird das je irgendwer bemerken?

Der Karmesinrote Palast hat eigentlich die Farbe der Sahne. Es ist ein ferner, faszinierender und wunderschöner Ort. Mittlerweile bricht die Dämmerung ein. Die Sonne verschwindet rasch hinter dem Rücken des prunkvollen Palastes, die perfekten Umrisse verschwimmen und zergehen in ihrer Umarmung. Asim erkennt die mit Arabesken verzierten Details nicht mehr, und auch nicht die kleineren Türme, die sich in den Vordergrund drängen. Es vergeht nur eine unendlich kurze Zeit, und schlagartig befindet er sich zu Füßen des Gebäudes. Eine von wer weiß woher gekommene Menschenmenge überwältigt ihn sturmartig. Ein hektisch-feierliches Gewirr von Menschen, die marschieren, das Becken nach rechts und links schwenken und einen Blick von ihm erhaschen, um danach das mitreißende Treiben wieder aufzunehmen. Asim wird von dem Tanz eingesogen. Seine Augen blitzen ekstatisch, und er versucht, wieder einer eigenen, unabhängigen Bewegung zu folgen, doch die unergründliche Energie der Menge hat schon für ihn entschieden. Er wird ins Innere des Palastes geführt.
Das Beste für Asim sind die Tage, an denen es nicht zu kalt ist. Er trägt eine dünne Kurta, das schwarze kragenlose Hemd, das ihm bis zu den Knien reicht, über einem Paar schwarze Salwar, die sich eng an seine Fesseln schmiegen. Auf dem Kopf hat er den roten Turban, die runde Brille und einen vollen Bart. Es gibt Augenblicke, in denen sein exotisches Aussehen die Kinder neugierig macht: Einige nähern sich ihm mit dem Fahrrad und begleiten ihn lächelnd. Sie grinsen verschmitzt, wenn sie untereinander zu wetteifern beginnen, wer schneller radelt. Die mutigsten klatschen bei ihm ab, bevor sie ihn seine Arbeitsrunde weiterfahren lassen. In anderen Momenten sind die Straßen hingegen menschenleer, und Asim fühlt sich übermannt von dieser Leere. Vor allem morgens früh, wenn die Stille wie ein Stöpsel gegen die Ohren drückt. Die Entdeckung dieser neuen Welt, in der er gelandet ist, in der fast alles manchmal auf irrationale Weise fließt und die Menschen die einfachsten Emotionen meiden, vermittelt ihm ein Gefühl des Verlorenseins. Zum Glück schaffen es manchmal seine Mitbewohner, Filme auf Hindi oder Bengali aufzutreiben, die sie im Internet runterladen, um ihre Abende zu verbringen. Es ist nicht dasselbe wie zuhause zu sein. Es ist nur eine vage Vortäuschung von Glück, die alles andere auslöscht.

Im Palast müssen Riesen gewohnt haben. Die Säle sind unendlich groß, einige erstrecken sich ganz weit hinauf. Dort oben schwimmen die heimtückischen Götter in einem Farbenmeer und schauen zu. Unten hat sich die Menschenmasse noch nicht zerstreut, sie vermengt sich in einer fließenden Umarmung, die den jungen Träumer festhält. Die zart ertönende Musik kündigt an, dass das Fest bald seinen Höhepunkt erreichen wird. Ebenso wie die Flut, die den jungen Mann bis dorthin gebracht hat. Doch Asim verhält sich gar nicht, als würde er träumen. Er wartet geduldig, dass jemand seinen Namen nennt, um ihn aufzuwecken. Die herausgeputzten Gäste wippen mit den Köpfen im Takt der Melodie. Er erkennt einige Gesichter von Menschen aus seinem Dorf, andere wiederum nicht, während sich die Menschenmasse mittlerweile öffnet, damit er den Mittelpunkt des Saals erreichen kann. Asim nähert sich und erkennt dabei die kleine, zierliche Gestalt seiner Mutter. Sie hält einen goldenen Turban in der Hand und überreicht ihn ihm. Sie selbst trägt einen eleganten rotgrünen Sari, die grauen Haare hinten zusammengeknotet. Sobald Asim das Geschenk entgegennimmt, fallen von der Decke Millionen Konfettis herunter. Asim erkennt darin die wertlosen Flyer, die er tagtäglich verteilt. Die Feierlichkeiten gehen weiter inmitten von unbekannten und vertrauten Gesichtern. Die Musik ist eine unsterbliche Kreatur, deren Stimme die der anderen überragt, auch die der Mutter, die versucht, ihm etwas anzuvertrauen. Der junge Mann reagiert nicht: Er lässt zu, dass alles seinen Lauf nimmt und spürt, wie sein Herz stark klopft.

Auf der anderen Seite erwacht Asim, der Inder, aus dem Schlaf. Er braucht nur die Augen zu öffnen. Er hat den Rücken gegen einen alten Baum gelehnt, streckt sich nach vorne und schaut sich um. Er unterdrückt ein Gähnen. Die Mittagspause ist schon eine Weile vorbei, aber das kümmert ihn nicht. Nachdem er sich hochgezogen hat, hebt er das Fahrrad vom Boden auf und radelt wieder los.