Ottava edizione 2015 • segnalato sezione inediti

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Inga Katharina Wagner

Inga Katharina Wagner

1976 in Wiesbaden (Deutschland) geboren. Sie hat am Institut für Dolmetscher und Übersetzer der Universität Triest Übersetzungswissenschaften studiert und anschließend einen Masterstudiengang in Immigration an der Universität Ca'Foscari zu Venedig abgeschlossen. Nach sechs Jahren in Modena (Italien), lebt sie mittlerweile wieder in der Nähe von Triest, in einem kleinen slowenisch-sprachigen Ort im Triester Karstgebiet, und versucht seitdem vergeblich, Slowenisch zu lernen. Sie arbeitet für das Sprachzentrum der Universität Modena und Reggio Emilia und ist ehrenamtlich im Bereich der Migration tätig.

IL RACCONTO

S.CROCE - KRIŽ, BRISTIE - BRIŠČE, PROSECCO – PROSEK, CONTOVELLO - KONTOVEL; die zweisprachigen Ortsschilder sind hier intakt. Im Nachbarort ist der slowenische übersprüht.

Dann nur TRIESTE. Der Bus windet sich die kurvige Küstenstraße hoch über dem Meer vom Karst in Richtung Stadt hinunter. Der atemberaubender Ausblick über den Golf von Triest, bei gutem Wetter von Venedig bis Punta Salvore/Savudrija; bei noch besserem auf die im Winter schneebedeckten Gebirgsspitzen am Horizont hinter strahlendblauem Meer: Italien.

Hier ist nicht Italien.

Ankunft am Busbahnhof von Triest und weiter nach Pula/Pola. Wieder zweisprachige Ortschilder, nur andersherum. Von den zwei Busfahrern spricht keiner italienisch. Hundertzwanzig Kilometer ist die Strecke lang. Dreieinhalb Stunden dauert die Fahrt. Ein banales Beispiel für die Veränderung von scheinbar universellen Maßen über Länder und Grenzen hinweg.

Noch steigen an der slowenisch-kroatischen junge blonde Grenzbeamtinnen ein und kontrollieren die Ausweise. Wer hier geboren ist und gelebt hat, hat unter Umständen vier Pässe gehabt: den österreich-ungarischen, den italienischen, den jugoslawischen, den slowenischen oder kroatischen. Grenzen, die zu einem nach Hause kommen.
Jetzt sind die Ortsschilder kroatisch/italienisch Die Landschaft verändert sich, wird mediterraner; Olivenbäume, rote Erde, die Sicht auf kleine venezianische Bergdörfer, die nicht verraten, wo sie sich befinden; dazwischen skurrile Monstrositäten. Grellrosane und -grüne Hotelbauten und Apartments, der neue Dinosaurierpark, Motorradpisten, riesige Werbeplakate bevölkern die Landschaft wie Ufos. Istrien - der Sommerspielplatz der Deutschen und Osterreicher. Willkommen in Kroatien; die Werbeplakate sind auf Deutsch. Moderne Kolonisation. Geld lässt Grenzen verschwinden. Wer keins hat, verliert.

Ein Sprachkurs wie alle anderen. Da sind die, die immer reden, die, die zu spät kommen, die Schüchternen, die Ordentlichen, die Eifrigen, die Gelangweilten, die ewigen Kritiker. Und doch könnten diese Schüler unterschiedlicher nicht sein. Einige stehen auf, wenn sie dran kommen, einige schreiben nie mit; sie haben nie eine Schule besucht.
Mursalim ist Teppichknüpfer und hat drei Kinder. Er kommt zu den Italienischstunden aller Lehrer, pausenlos murmelt er Wörter vor sich hin, um sie sich einzuprägen; schreiben kann er nicht.
Er sitzt neben Ehsan, dem Computeringenieur aus dem Iran, der beim Thema Beruf als Lieblingsberuf Formel Eins-Pilot angibt. Behran ist Psychologe, er spricht sieben Sprachen, unter anderem Bulgarisch, er war einige Zeit in einem bulgarischen Flüchtlingslager als Dolmetscher tätig. Bulgarien liegt auf der Landroute von Afghanistan, sein Tischnachbar hat sie schon zweimal zurückgelegt. Dawar, auch Analphabet, möchte wissen, wie man denn seinen Beruf auf Italienisch nennt. "Soldato" ist die Antwort, dazu die gleichzeitige Erklärung, dass "sono nell'esercito/ich bin beim Militär" irgendwie besser klingt. Nach der Stunde bittet er darum zu warten und kommt mit zwei Originalzertifikaten zurück; sie sind auf Englisch, ausgestellt von der amerikanischen Militärbesatzung, die im "ausgezeichnete Dienste" bescheinigt.
Der nochmalige Versuch, ihm zu erklären, warum "soldato" unschön klingt und die dabei empfundene Scham. Er ist stolz darauf, Soldat zu sein. Nie könnte man ihm begreiflich machen, dass der Krieg in Afghanistan aus europäischer Sicht auch negativ besetzt ist. Wie auch, er war dabei. Die Bilder, die wir nur aus der Tagesschau kennen und von einem Film kaum unterscheiden, sie sind seine Heimat. Vom Luxus, Europäer zu sein.

Es gibt eine Gruppe, die gar nicht zum Italienischunterricht kommt, die Aufsässigen; die, die so schnell wie möglich aus Italien weg wollen, die schon jahrelang in einem anderen EU-Land waren; 'Dublin' hat sie gegen ihren Willen hierher verschlagen.
Eine andere Gruppe schläft bis mittags. Ihr Antrag wurde bereits abgelehnt. Das Warten auf den Erfolge oder Misserfolg des Einspruchs, den sie erhoben haben, ist im Schlaf erträglicher.
Die Restlichen sitzen draußen, spielen Kricket, man sieht sie in Grüppchen in der Stadt herumlaufen und an der Hafenmole sitzen. Es gibt nicht viel zu tun in den langen Monaten des Wartens auf die Anhörung der Kommission in Görz, die über ihr Bleiberecht und Leben entscheidet.
Eine weitere Gruppe geht jeden Tag ans Meer. Barcola, die Uferpromenade von Triest, die von April bis Oktober als Liegewiese dient, kennen sie alle.

Gleiche Situation, ein anderer Ort. In dem kleinen Karstdorf stehen die meisten den Großteil des Tages auf der Straße herum. Busfahrkarten um in die Stadt zu fahren haben sie keine. Sie sind "furoi convenzione", wurden mit dem Bus von Sizilien gebracht. Der private Vermieter der Ferienresidenz, der sie beherbergt, hat die Gunst der Stunde auszunutzen gewusst. Die Undurchsichtigkeit der italienischen und europäischen Handhabung und Gesetzeslage.
Bei der zweiten Italienischstunde geht es um Zahlen und das Alter. Die meisten sind um die Zwanzig, einige unter ihnen sehen doppelt so alt aus, haben graues Haar. Nach Barcola ans Meer gehen sie nicht. Mit dem Meer haben sie schlechte Erfahrung gemacht.

Die italienische Presse wettert je nach Gesinnung gegen Flüchtlinge oder gegen die italienische Flüchtlingspolitik.
In Deutschland dagegen beeilen sich die Medien dem Phänomen fast ausschließlich positiv gegenüber zu stehen. Willkommenskultur heißt das neue Schlagwort. Gleichzeitig brennen wieder Asylbewerberheime Die Anstrengung Italiens, um den Ansturm zu stemmen wird vielfach gelobt. Dublin und zwei Grenzen halten ihnen einen Teil der Flüchtlinge vom Leib. Grenzen - wir ziehen sie hoch oder schaffen sie ab, wie es uns gefällt. Die Aufhebung von Schengen.

Die geographischen Grenzen, von Menschenhand an Siegertischen teils mit dem Lineal gezogen, werden überwunden - so oder so. Die sprachlichen und kulturellen auch. Man kann zu zwei Ländern gehören. Beides ist zu Hause und ist es doch nicht. Was bleibt, ist ein diffuses Gefühl, eine Art Heimweh nach einem nicht existierenden Ort beziehungsweise die Sehnsucht, an einem einzigen Ort zu Hause zu sein und diesem unabdingbar zugehörig zu sein, wie es nur jemand sein kann, der sein ganzes Leben im geborgenen Gitterbett der dortigen Gemeinschaft verbracht hat.

Ankunft mit dem Bus am Flughafen. Drei Länder und zwei Grenzen sind bereits durchquert; das Flugzeug wird über zwei weitere fliegen bis zur Ankunft zu Hause, in Land, das nicht mehr Heim ist. 145 Grenzen kann man mit einem deutschen, 144 mit einem italienischen Pass ohne Visum überschreiten. Das Glück in Europa geboren zu sein, das nur purer Zufall ist.

Das Flugzeug hebt ab und kreist über einer kleinen Inselgruppe und Küstenlandschaft. Die rote Erde Istriens erinnert an die Afrikas.