Quinta edizione 2009 • secondo classificato prima categoria

Der Gelehrte

Gaston Polle Ansaldi

Gaston Polle Ansaldi

Er ist am 14. April 1992 in Turin geboren; er besucht die vierte Klasse des Wissenschaftlichen Gymnasiums in Domodossola (VB), seinem Wohnort. Parallel dazu perfektioniert er seine Musikstudien am Konservatorium „G. Cantelli“ in Novara in der Klavierklasse. Dies ist der zweite Literaturwettbewerb, an dem er teilnimmt: Im Jahr 2008 hat er eine lobende Erwähnung beim Wettbewerb „Modello Pirandello“ in Agrigent erhalten.

LE MOTIVAZIONI DELLA GIURIA

"Der Gelehrte" skizziert mit einem Hauch von Ironie die symbolhafte Parabel eines Genies, dem das Schicksal unter dem Schein einer zerstreuten Hausangestellten, die die Fenster offen lässt, einen Streich in Form eines Windstoßes spielt, der überall seine Papiere mit den Plänen und Entwürfen sensationeller Entdeckungen zerstreut, welche den Kurs der Geschichte hätten ändern können. Es ist ein ganzes Leben, inklusive Schweigemomente und ein paar Rätsel, das in diese Erzählung einfließt, der es sicherlich nicht an einer eigenen einleuchtenden Moral über die Vergänglichkeit der Dinge und die Unberechenbarkeit der Geschehnisse mangelt. Und während der Gelehrte im Laufe der Zeit allmählich schrumpft, wird der Leser selbst zu gesunden Fragestellungen aufgerufen.

IL RACCONTO

Seit Beginn seines Lebens, in zartestem Alter, hatte er sich schon immer gewünscht, etwas Wichtiges zu tun. Einen Berg erklimmen, ein Buch schreiben, den Nobelpreis gewinnen, irgendein neues Molekül entdecken, alles übte auf ihn denselben, obsessiven Zauber aus. Das war der Grund, weshalb er im Laufe der Jahre immer viel gelernt hatte und sich bis ins kleinste Detail in jedes Gebiet des menschlichen Wissens vertieft hatte, so sehr, dass er ein wichtiger Gelehrter wurde, obschon er auf sozialer Ebene und in sportlichen Tätigkeiten Schwierigkeiten aufwies.
Wie ein bekannter Vorgänger, hatte das ständige, rastlose sich Beugen über die „mühevollen Hefte“ ihn leicht krumm gemacht, und ihm einen spröden Charakter verliehen. Dank seiner Tätigkeit hatte er nie unter finanzieller Not gelitten, und stets war er der Stolz zuerst der Familie, aufgrund der zahlreichen (Elite-) Schulen, die er besucht hatte, später dann seiner Stadt gewesen –… Und einer ganzen Nation!! –, wie der Staatschef gesagt hatte, als er ihm die Arbeitsmedaille, die höchste ihm verliehene Auszeichnung, übergab. Oft wurde er von den wichtigsten Universitäten eingeladen, um dort ewig währende Konferenzen über die verschiedensten Themen zu halten, sowie (obwohl für ihn Mondanität einem Fluch entsprach) zu verschiedenen Feiern, Festmahlen und einmal sogar, um in eine moralisch nicht ganz einwandfreie Sekte als Initiierter einzutreten. Neben seinem Engagement um die Verbreitung des Wissens, widmete er sich natürlich auch anderen Forschungen in seinen unterschiedlichen Studienfeldern, mit außerordentlichen Ergebnissen: Mindestens zweimal im Jahr kamen seine Bücher raus, cum magno gaudio der Verleger, ganz zu schweigen all der Artikel, Essays und Monografien, die er fast überall veröffentlichte. Dieser beachtliche Papierberg bildete jedoch nur die Spitze des Eisbergs der Forschungen des Gelehrten: Eine Bagatelle!! Das ist alles eine Bagatelle verglichen mit meinen wirklichen Arbeiten!! –, pflegte er oft bei seinen Tagungen zu wiederholen, mit dem schallenden, strengen und tadellosen Ton, der ihn so stark kennzeichnete.
Über all dies wusste man ziemlich wenig: Die Hausangestellte, die seinen Palast sauber hielt (es handelte sich eher um ein kleines Schloss, Zeichen einer gewissen Egozentrik), verriet den begierigen Zuhörern, dass all seine hochwichtigen Entdeckungen (in Papierform, versteht sich) in einem riesigen, stets versiegelten Schrank sichergestellt waren, zu dem niemand Zugang hatte außer dem Gelehrten selbst. Dort waren vierzig Jahre Innovationen, Erfindungen und neue Thesen aufbewahrt.
Laut nicht bestätigter Gerüchte waren dort Pläne für Maschinen, die die Zeit kontrollieren konnten, die chemische Zusammensetzung der Unsichtbarkeit sowie Pläne zur Massenvernichtung und für die Wiederbepflanzung von Wüsten versammelt. Natürlich lockte ein solches Vermögen viele, unter anderem die Angestellte selbst, die sich schon, im Falle des Verkaufs jener kostbaren Papiere, einen verdienten Vorruhestand auf einer Tropeninsel vorstellte. Natürlich verfügte der Gelehrte über eine gewisse Schlauheit und auch dank jener beunruhigenden Aura, die von ihm ausging, hatte niemand das Unwagbare gewagt. Doch warum, und gerade dies war der Dreh- und Angelpunkt, ließ der Gelehrte dann nicht alle anderen an seinen Entdeckungen teilhaben??
Was war die Erklärung für so viel Zurückhaltung?? Es ist überflüssig, zu erwähnen, dass sich die üblichen Phantasievollen in den Mußestunden nicht enden wollender Sonntagnachmittage zahlreiche Theorien zusammengereimt hatten, worunter auch einige ziemlich eigenartige: Manche behaupteten, er verhalte sich auf diese Weise, weil er seine Ideen im Laufe der Zeit verbessern wolle, daran feilend und polierend (siehe Darwins Lehre), andere schrieben ihm einfach mangelndes Vertrauen in seine Fähigkeiten zu, verbunden mit einer gewissen existentiellen Schüchternheit, andere wiederum behaupteten, dass alles schlicht und einfach eine Erfindung sei, ein von den „Medien“ erfundenes Märchen, um Gerüchte zu schüren. Trotzdem verzichteten viele nicht auf den „Traum“, und bei jeder einzelnen Konferenz blieb nie die besagte Frage aus, und immer wieder aufs neue wurde sie mit demselben, unergründlichen Schweigen erwidert.
Über sein Privatleben wusste man wenig: Er war nicht verheiratet und, bis auf eine alte Flamme, hatte er immer ein ziemlich einsames Leben geführt, frei von jeglicher emotionellen Verwicklung. Nun hatte er jedoch den Gipfel des Ruhmes erlangt, er wurde von allen gesucht, verehrt, vergöttert: Sogar den Dümmsten, den intellektuell am wenigsten gewitzten, war sein Name bekannt; er war darüber überstolz, fast eingebildet, trotz des Bewusstseins, dass er nicht die Verkörperung der Perfektion darstellte (obwohl er, seiner bescheidenen Meinung nach, nur wenig davon entfernt war). Er war überzeugt, gar sicher, die totale Kontrolle über sein Leben und seine Existenz zu haben. Doch bekannterweise lässt sich das Schicksal (worüber er eine kurze Abhandlung verfasst hatte), trotz allem nicht einfach von irgendeinem so ohne Weiteres um den Daumen wickeln.
Wie immer, wenn die kalte Saison einbrach, wurde der einsame Ort auf dem Land, in dem er wohnte, von Stürmen, Wolkenbrüchen und allem sonst Erdenkbaren heimgesucht. An einem besonders verregneten (und vor allem sehr windigen) Abend hatte der Gelehrte getreu seiner Gewohnheit die Idee gehabt (welche so ungefähr drei-viermal im Jahr unabwendbar wieder auftauchte), das kostbare, im Schrank gehütete Material neu zu erfassen, es abzugleichen und zu korrigieren: Eine aufreibende, anstrengende und, um die ganze Wahrheit zu sagen, unnütze Arbeit, da niemand sie lesen konnte und es deshalb so war, als ob es sie nicht gäbe. Leider hatte die Haushälterin im Zimmer neben dem Arbeitsraum, in dem sich der Schrank befand, gerade alle Fenster geöffnet um zu lüften (es ist nun schon bekannt, dass sie nicht besonders hell war). Die Wirkung war katastrophal. Sobald sie die Tür öffnete, flogen die Blätter wie von etwas Immateriellen angezogen aus dem Schrank, über den Gelehrten hinweg, und wirbelten zu den offenen Fenstern des anderen Zimmers, und der arme Mann machte sich, sobald er sich erholt hatte, auf eine wahnsinnige und unnütze Verfolgungsjagd, während er die Haushälterin anbrüllte. All seine Blätter, seine gesamten hochwertvollen Arbeiten waren daran, wie im Wirbelwind davonzufliegen, raus in die vom Regen zugeschlammte Strasse, und wurden sofort unleserlich.
Der Ärmste versuchte mit Hilfe der Haushälterin vergebens die wenigen aufzufangen, die noch im Zimmer rumflogen, doch man konnte nichts tun: Es schien, als ob eine unsichtbare, fast göttliche Kraft sie ihm aus den Händen entriss und sie aus dem Fenster warf. Innerhalb von zehn Minuten hatte sich der Schrank vollständig geleert, bis auf eine Handvoll Blätter, die der Gelehrte aufgefangen hatte, obwohl sich all dies als völlig sinnlos erwies: Es handelte sich nur um lange und weit schweifende Einleitungen zu seinen Werken, die sich im Laufe der Zeit angehäuft hatten und die der Gelehrte sich nie getraut hatte, wegzuwerfen.
Sein Kummer raubte ihm die Sprache und den Verstand, und er verbrachte lange, qualvolle Monate, in denen er sich nur mit Gebärden ausdrückte und gerade das Nötigste aß, um nicht zu sterben (besser gesagt, er wurde von der Haushälterin zwangsgefüttert). All dies wurde natürlich durch Presse, Fernsehen, Radio lauthals verbreitet, und es war schon die Sprache davon, einen Film über das Ereignis zu drehen. Zahlreiche Berichterstatter, Fotografen und Journalisten waren mehrmals in seine Wohnung eingedrungen mit der Absicht, ihn zu interviewen, doch ohne Erfolg: Sein Schweigen, wenn auch aus anderen Gründen, hatte er nicht verloren.
Als unbestrittene Königin der Chroniken erwies sich hingegen die Haushälterin: Sehr wohl in die Rolle geschlüpft, lüftete sie stark und laut und mit großer Hilfe der Medientechnik alle Geheimnisse über das Haus des Gelehrten, u.a. auch eine alte Liebesgeschichte zwischen den beiden, ganz zu schweigen von dem unehelichen Sohn und der Hochzeit unter falschem Namen; alles Geheimnisse, die sich als ihre Hirngespinste erwiesen. Außerdem kam hinzu, dass aus dem Nichts die verschiedenen Verwandten des Gelehrten auftauchten, die aufgrund seines prekären Gesundheitszustandes ernsthaft dazu bereit waren, sich einen bitteren Kampf zu liefern, um sich die Urheberrechte zu sichern, und erfanden dafür testamentarische Klauseln und Weiteres. Natürlich erfuhren seine Bücher und all seine Veröffentlichungen einen fortschreitenden und unfassbaren Anstieg der (schon vorher beträchtlichen) Verkaufszahlen, und schon rekrutierten echte oder Möchtegern-Verleger Essayisten, Psychologen und Philosophen, um einen eindrucksvollen Band herauszugeben, der die sonderbare Figur des Gelehrten genauer unter die Lupe nehmen sollte.
Der Zustand von Letzterem verschlechterte sich zusehends. Außer dem Verlust der Sprache und der allgemeinen Fähigkeiten, verfiel er auch äußerlich: Die Haut wurde sehr runzelig, und, wie alle genau bemerkt hatten, begann er langsam zu schrumpfen. Trotz dieser schrecklichen Veränderungen, hielt das Interesse für ihn weiter an: Es häuften sich immer mehr die Sonderausgaben über ihn, die unter anderem darauf abzielten, zu zeigen, wie man durch einen äußerst banalen Unfall verkümmern kann. Dann verschlechterte sich das Augenlicht, das schon in gesundem Zustand nicht optimal gewesen war, noch mehr, ganz zu schweigen vom Gehör, welches hingegen ausgezeichnet gewesen war. Er verbrachte nun seine Tage, indem er aus dem Fenster schaute und denjenigen, die ihn fragten, war er tat, mit Gesten antwortete, er „warte“. Auf was, erklärte er nicht, doch man konnte es erahnen. Kurz vor dem Ereignis, wodurch er berühmter wurde als er sich je hätte vorstellen können, wodurch endlich sein Kindheitstraum, etwas Wichtiges zu tun, in Erfüllung ging, sah es aus, als wäre eine deutliche Verbesserung eingetreten: Er sah und hörte wieder bestens, sein Verstand funktionierte viel besser, er hatte Appetit und erstaunlicherweise sprach er wenige aber bedeutende Worte aus, die sofort von allen Leuten aufgegriffen und aufgezeichnet wurden. Letztere (jedoch aus unterschiedlichen Gründen), auch die Haushälterin, waren freudenerfüllt, weniger die Verwandten, da sie im Falle einer Wiederherstellung seiner Gesundheit jegliche Form von Erbe vergessen konnten.
Man weiß nicht recht, was passierte, doch es liegt eine einzig sichere, von der Magd überlieferte Tatsache vor: Er verschwand. Besser gesagt, er ließ sich nie mehr blicken. Es war nun schon allzu lange Zeit, dass er vor sich hin schrumpfte und, als ihn niemand mehr sah, schaffte er es mit einiger Mühe, sich in den Schrank zu schleppen, und dann… verschwand er einfach. Man suchte ihn einige Tage lang, dann, nach und nach, ließen sie es sein, überzeugt, dass er auf irgendeine Art zurückkommen würde, doch dies sollte nie stattfinden.