9. PREIS • 2017 • Ausserordentlicher Preis der Raiffeisenkasse

Wie eine Mutter

Chiara De Bastiani • Übersetzungen von Juliana De Angelis

Chiara De Bastiani

Geboren 1978 in Feltre, Belluno. Sie hat am Institut für Dolmetscher und Übersetzer der Universität Triest studiert, wo sie ein Übersetzerdiplom für die Sprachen Deutsch und Englisch erworben hat. Danach belegte sie einen Masterkurs in Diplomatischen und Internationalen Wissenschaften in Turin. Einige Jahre lang hat sie als Übersetzerin gearbeitet: Sie hat sich u.a. mit literarischen Übersetzungen befasst und  diverse Titel für den Verlag Spartaco übersetzt. 2007 hat sie eine Stelle bei der Weltgesundheitsorganisation in Venedig angetreten. Zurzeit ist sie am Hauptsitz dieser Organisation in Genf tätig. Ihre Leidenschaft gilt Geschichten und der Schreibkunst, sie hat an diversen Literaturwettbewerben für Erzählungen teilgenommen und verschiedene Auszeichnungen und Preise erhalten. Einige ihrer Erzählungen wurden veröffentlicht.

BegrÜndung der Jury

Die Hauptfigur ist eine Frau, Conchita, warm und ungreifbar zugleich, die ein Straßenlokal führt, die Essen anbietet, berührt und zubereitet, gierig, während gleichzeitig jemand, ihre Existenz streifend und von ihr angezogen, sich dem Leben nähert. Eine Frau, die sich heimlich am Leben festkrallt, von innen dessen Entbehrungen und Peitschenhiebe kennt. Eine Erzählung, die die Anmut des Maßes kennt; die uns mit wenigen, genauen Federstrichen in eine lebendige und unbekannte Welt eintauchen lässt. Eine Meereslandschaft, deren Brise man zwischen Oktopussen und Mollusken riechen kann. Ein zunächst unförmiges Szenarium, das fast aus Nichts zu sein scheint, und dann dank der Wörter auf einmal sichtbare Konturen annimmt. Die Wiedergabe eines privaten, knapp gehaltenen, nur ansatzweise erzählten Schicksalsschlags, an den erinnert wird, der im Gedächtnis hängen bleibt. Die in „Wie eine Mutter” gemeisterte Herausforderung ist eine der schwierigsten, die Herausforderung echter Erzählungen: Im Wenigen eines Maßes das Viele eines Knotens, eines Schmerzes, eines Lebensabschnittes zu erzählen.

ErzÄhlung

Die Bar unter mir betrieb eine Spanierin. Sie hieß Chacha. Die Bar, nicht die Spanierin. Frühmorgens betrachtet, sah das Schild über der Tür so rosa wie Taufbonbons aus. Die Buchstaben hatten die Form von Oktopusarmen, furchterregend bei Nacht, wenn sie sich mit fluoreszierendem Licht aufblähten.

Eines Morgens war ein Kunde an der Schwelle stehen geblieben. – Wann bringst Du uns die Sonne, Conchita? – und hatte, während er sich entfernte, mit dem geschlossenen Regenschirm in Richtung der Dächer gezeigt. Der Himmel neigte zu einer milchigen Farbe, und der Name der Spanierin war mir den ganzen Tag über nicht aus dem Kopf gegangen.

Ich wohnte seit zwei Wochen in dem Viertel. Im Laufe der Zeit sollte ich viele Dinge lernen. Zum Beispiel, dass Conchita von dienstags bis freitags Pimientos de padrón anbot. Am Samstag Pulpo a feira und am Sonntag das, was vom Oktopus vom Samstag übrigblieb, zwischen einem Kunden und dem nächsten noch einmal gut umgerührt, zwei Pirouetten mit dem Handgelenk, hin- und herschwappendes Öl, die dritte Runde im Mund, damit der Löffel wieder blank wurde. In langweiligen Momenten verscheuchte sie die Fliegen von der Theke. Sonntags stand sie oft im Eingang und hielt sich an der Wand oder an einer Zigarette fest, oder an beidem. Jedes Mal, wenn ich vorbeikam, überkam mich der Impuls, ihr auf die Beine zu gucken, die immer nackt waren, bei Sonne und Regen.

Eines Tages – im Juni werden mittlerweile zwei Jahre vergangen sein – hatte sie ein Schild an die Tür gehängt, es stand darauf, dass es frische Zamburiñas gab. Ich erinnere mich daran, weil ich das Lokal an diesem Abend zum ersten Mal betreten habe. Drinnen war die Luft schweiß- und fettdurchtränkt. Ich war schnurstracks auf einen Tisch zugegangen. Im Vorbeigehen hatte ich in einer Ecke der Theke unter einem dünnen Film von Pimento picante eine tote Fliege gesehen. Von meiner Stellung aus hatte ich die Auslage angestarrt, verzaubert von der Vielfalt an Krebstieren und anderen aufgerollten oder aufgespießten, eingewickelten oder gefüllten, triefenden Meerestieren, alle oder fast alle namenlos für mich, der ich vom Meer wenig wusste. Ich hatte die verstorbene Fliege in der Ecke gesucht. Aus dieser Entfernung sah ich sie nicht, aber die Tatsache, dass ich wusste, dass sie dort lag, hatte mich beruhigt, da ich von ihr wenigstens sagen konnte: Es ist eine Fliege.

Wie lange Conchita mich angestarrt hatte, kann ich nicht sagen. Als ich mir dessen bewusst geworden war, war ich zusammengefahren. Ich hatte aufgeschaut, mit dem Blick die verblassten Fasane streifend, die auf der Seide (oder war es Baumwolle?) herumflatterten, einem fehlte ein Flügel, der in der Naht zwischen der Achselhöhle und dem Ansatz des Busens hängen geblieben war. In der Nähe des Ausschnitts sprang der metallicfarbene Kopf eines männlichen Exemplars hervor, weder blau noch grün, beides. Ich hatte „Hallo“ gesagt; in dem Moment war mir ein Fasan im Gleitflug entgegengekommen und ich hatte gefürchtet, dass er mich streifen würde, während Conchita, ganz vornüber geneigt, den kleinen Tisch, an dem ich saß, abrieb und die Spuren alten Kaffees beseitigte. Als sie sich samt ihrer Fasane entfernt hatte – nicht einmal ein Schwirren, nichts – hatte ich mich auf dem Stuhl aufgesetzt.

– Was darf ich Ihnen bringen? – hatte sie mich gefragt, während ich ihre Augen kreuzte, und was für Augen, solche hatte ich noch nie gesehen, Augen, die so bohrten, die die Dinge zurechtrücken konnten, die Füllung im Kissenbezug. Ich hatte einen Teller Zamburiñas bestellt. Während sie sich entfernte, hatte ich ihr auf die nackten Beine geschaut, dann in den Himmel jenseits der Tür und dann auf die nackten und hinter der Theke unsichtbaren Beine. Es hatte angefangen zu regnen.

Damals hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was ich auf dem Teller vorfinden würde. Es geschah nach demselben Prinzip, dass ich sechs Monate später zu ihr gezogen war. Ich hatte nicht allzu viel überlegt, ich sagte mir, dass es im Leben an einem Tag Zamburiñas gibt und am nächsten Pulpo, und keine Ahnung, was dann. Am Ende hatten mir diese winzigen Mollusken geschmeckt, und beim Hinausgehen hatte ich an jenem Abend ihre Silben mit den Lippen weitergekaut und das Meer geschmeckt.

Einige Tage lang hatten wir uns nicht gesehen, ich und die Spanierin. Am folgenden Samstag kündigte die Tafel vor der Bar Pulpo a feira an, in einer mehr als eines Königs würdigen Explosion aus Fangarmen und Spiralen und Blumen. Ich war gegen zehn Uhr hinuntergegangen. Conchita hatte mir zugelächelt. Ich hatte einen Kaffee bestellt und ihn an der Theke neben aufgeknöpften Manschetten und Handgelenken ohne Armbanduhren getrunken. Es war Sommeranfang.

Von dem Tag an hatte ich begonnen, beim Chacha halt zu machen, zuerst ab und zu, dann oft. Ich wartete, bis die hastigen Kunden weg waren, betrachtete die auf der Theke verstreuten Cents, die Lippenstiftküsse auf dem Porzellan, die Zuckerblutungen, die in Murmeln verwandelten Servietten. Vor allem beobachtete ich ihre Kleider: Mit der Zeit wurden die Farben intensiver, die Rottöne röter, die Grüntöne fanden neue Kraft und es erblühten Sonnenblumen, die sich nie wieder schlossen. Und die Fasane, all die verblassten Fasane von der Taille an aufwärts, die habe ich nicht mehr gesehen. Auf einmal kam mir das Leben neu vor. Sie war es gewesen, die begonnen hatte, mit mir anzubandeln. Am Anfang sprachen wir über viele Dinge, die mir in dem Moment banal erschienen, aber von denen ich heute sagen könnte: Das ist es, was zählt. Mehr als alles beeindruckte mich das, was sie nicht sagte, die Passagen, über die sie mit der gleichen Anmut des Lappens, den sie nie weglegte, hinwegglitt, und je mehr die Zeit verging, desto mehr gewöhnte ich mich daran zu reden und ihr beim Saubermachen zuzuschauen, Saubermachen und Reden, die gleichen Runden.

Die Geschichte mit den Miesmuscheln hatte sie mir am ersten Abend erzählt, an dem sie mich zu sich eingeladen hatte. Sie stand vor dem Spülbecken, und das Radio hatte schlechten Empfang, es schien voller Fliegen zu sein. Sie hatte mir gesagt: Mach es aus. Dann hatte sie zwei Miesmuscheln aus dem Topf genommen; ich dachte, sie wolle sie wegwerfen und wollte gerade zur Seite rücken, aber sie hatte mir mit einer Kopfbewegung ein Zeichen gegeben, als wolle sie sagen: Bleib. Am Ende war ich geblieben. Ich bin bis heute geblieben und, während ich den Garten durchquere, um sie zu begrüßen, – stets unter der Birke, stets das Kleid mit den Sonnenblumen, die sich nicht schließen – kann ich sie noch hören, die Fliegen im Radio, wie an jenem Abend, und das Geplapper der zum Einweichen gelegten Miesmuscheln, all das Fastenzeit-Lila und Schwarz.

Manchmal reden wir viel; wir erzählen wie früher Dinge, die in dem Moment unwichtig erscheinen, aber im Abstand von einigen Tagen wieder auftauchen und glänzen. An anderen, wie heute, ist es mühsam, und dann denke ich, dass es leichter war, als wir im Chacha waren und die Antworten zwischen einem Kaffee und dem nächsten kamen und eine Runde Lappen ausreichte, um das Glück auszumachen.

Ich habe mich heute Morgen neben sie gesetzt, ich habe ihr gesagt, dass ihr Sonnenblumen gut stehen. Sie hat mir gesagt, dass sie an diesem Ort wirklich verrückt werden würde. Ich habe ihr gesagt, dass es ein wenig Geduld brauche, aber ich wusste selbst nicht, wofür. Sie hat eine Minute lang geschwiegen, die mir unendlich erschien und die ich mit nichts auszufüllen vermochte. – Heute ist Pulpo-Tag – hat sie mir schließlich gesagt. Ich habe darüber nachdenken müssen. Seit sie dort ist, habe ich den Sinn für die Zeit verloren, aber sie hatte recht: Es ist Samstag.

Sie hat weiter mit der Hand die Blüten der auf dem Kleid verstreuten Sonnenblumen glattgestrichen und hat nichts mehr gesagt. Dann hat sie auf einen Punkt vor sich zwischen den Ästen gedeutet. – Da ist ein Nest, das man von hier aus nicht sieht; es gibt viele Dinge, die man nicht sofort sieht, – das hat sie gesagt, fast ohne die Lippen zu bewegen.

Wenn es wie heute läuft, kehre ich nach Hause zurück, und unsere Wohnung erscheint mir riesengroß. Heute Abend habe ich mich in die Küche gesetzt. Da haben wir wunderschöne Augenblicke verbracht, dann fürchterliche, dann wieder wunderschöne. Es war eine wunderschöne Zeit, als es passierte. Das Chacha lief bestens, Conchita war begeistert, sie strahlte einen Elan aus, den ich noch nie an ihr gesehen hatte, sie hatte aufgehört, Dinge umzurühren und die Fliegen anzustarren. Ich half ihr. Ich wusste, dass ich nicht der Grund dieser Energie war, aber ich achtete darauf, den Fluss nicht zu stoppen. Es reichten Kleinigkeiten aus: Ich kümmerte mich um praktische Angelegenheiten, vor allem besorgte ich ihr den frischen Fisch, den sie abends für die Kunden des darauffolgenden Tages zubereitete. Auf dem Küchentisch hinterließ sie lange Listen, mehr Spanisch als Italienisch, Verzeichnisse der Meeresfauna, die von meinen Händen in die des Fischhändlers übergingen und dann wieder in meine zurückkehrten, vor Tinte und Salzwasser triefend. Pulpo war immer dabei. Eines Tages hatte ich sie gefragt, warum unter allen Namen dies der einzige war, den sie unterstrichen hatte, und sie hatte mir geantwortet, dass das Chacha dank des Pulpo lief; das hatte mir als Erklärung gereicht.

Es ist die Nachbarin gewesen, die es merkte, vor zwei Monaten. Sie hat an der Tür geklopft. Sie hat mir gesagt, dass vom Keller neben ihrem ein starker Geruch ausgehe, ob ich nachschauen könne, ob nicht ein Rohr geplatzt sei, oder irgendwas. Ich habe ihr gesagt, dass Conchita die Schlüssel hätte, dass ich aber nachschauen würde, dass ich dachte, dass es nicht so sei, aber dass ich könne und so weiter. Am Abend war Conchita hinuntergegangen, die Fischtüten in das Eisfach stecken, und es ist mir wieder eingefallen. Ich wollte abwarten, bis sie zurück war, um sie nach dem Geruch zu fragen, aber am Ende bin ich runtergegangen, um nachzuschauen.

Es war eine wunderschöne Zeit, heute kann ich es sagen. Hätte ich es damals gewusst, hätte ich der Nachbarin nicht gesagt, dass ich runtergehen könne, um nachzuschauen, denn eigentlich konnte ich rein gar nichts tun, ich konnte die Schäden nicht reparieren. Die Tür war angelehnt. Conchita saß auf dem Fußboden, warm auf dem feuchten Zement des Kellers, das rote Kleid blühte inmitten des weißen Plastiks der Fischhändlertüten. Die auf der Brust gedruckten Blumen waren nass, der Stoff klebte an der Haut und ließ dabei ihre Formen erkennen. Auf ihrem Schoß, zwischen übertriebenen Blumen, ein Oktopus oder nein, es waren zwei, zwei Köpfe und Fangarme überall, Taufbonbon-Rosa, und die Hände, zwei, die von Conchita, die jeden Fangarm einzeln streichelte und sich dann vornüberbeugte und die Stirn küsste, die Stirn? Sie küsste die Stirn des einen und des anderen und flüsterte dann – oder waren es die Rohre? – ein Gutenachtlied, ein Singsang, dass das Meer dich mitnehme, ging es, dass das Meer. Aus den herumliegenden offenen Tüten ragten weitere Fangarme heraus; ich habe sie gesehen, wie sie sich umdrehte, diese Kreaturen eine nach der anderen nahm, sie sich an die Brust brachte, sie in den Armen wiegte und, nachdem sie sich die Oktopusarme um den Hals gelegt hatte, den Kopf schief hielt, wie Mütter auf Ikonen die, in liebevoller Geste, den Kopf seitlich halten.

  Die Praxis des Arztes lag im Halbdunkel. Die ganze Zeit über, die wir dort geblieben sind, fürchtete ich, er könne den Fischgeruch wahrnehmen. Ich hatte ihr geholfen, sich zu waschen, aber den Geruch hatte ich ihr nicht abstreifen können, und er füllt mir noch heute die Nasenlöcher. Ich weiß nicht, was Conchita gesagt hat, als der Arzt mich hinausgebeten hat und sie allein geblieben ist. Ich habe im Wartesaal auf sie gewartet, und dort standen drei ausgeleierte rosa Sofas und eine nicht funktionierende Kaffeemaschine. Mir schien es, als wolle die Zeit nur zäh verstreichen. Ich hätte die Tür öffnen, ihr entgegenlaufen, ihr zwei Muscheln bringen, ihr sagen wollen: Hier, jetzt erzähl. Ich konnte sie mir nicht vorstellen mit leeren Händen im Schoß, sie, die sie das Bedürfnis hatte, die Worte zu zeigen. An jenem Abend, dem ersten bei ihr zuhause, hatte sie mir ihre Geschichte so erzählt, mit zwei Miesmuscheln in der Hand. Wir waren in der Küche, sie kochte, ich hatte gerade das Radio ausgemacht, wie sie mich gebeten hatte. Sie hatte zwei purpurfarbene Muscheln in die Hand genommen. Sie hatten dieselbe Farbe wie das Kleid, das sie trug, vielleicht etwas glänzender.

– Was machst du da? – hatte ich sie gefragt, als sie sie sich gegen den Leib presste. Ich hätte begreifen sollen, dass sie mir gerade etwas Wichtiges mitteilte, anstatt sie zu unterbrechen. Sie hatte sie sich auf Hüfthöhe gelegt, die zwei Muscheln, eine rechts und eine links, perfekt symmetrisch und geschlossen, ebenso geschlossen wie die Schalen, die nichts taugen und mit Gift gefüllt sind. Ich hatte sie angeschaut, schwarz und lila, den Blick gesenkt, die zwei künstlichen Organe, die sie sich gegen den Bauch drückte, das Schweigen: Wir waren das Abbild eines Kreuzweges. Dann hatte sie die zwei Mollusken angenähert und angefangen, sie gegeneinander klappern zu lassen. – Was machst du da? – hatte ich wiederholt. Dann hatte sie sie auf Höhe der Eierstöcke gelegt und gesagt:Ich habe das Böse hier. Danach hatte sie sie wieder gegeneinander geklappert, und das Herzklopfen dieser Kastagnetten hatte den Schmerz überdeckt.

 Morgen werde ich den Arzt sehen, der sie in Behandlung hat. Er wird mir wieder einmal von Unfruchtbarkeit, Depression, imaginären Kindern und so weiter berichten. Später werde ich beim Fischhändler vorbeigehen. Ich benutze eine ihrer alten Einkaufslisten, jetzt, wo Conchita in der Klinik ist. Wenn sie rauskommt, werde ich sie bitten, mir eine neue zu schreiben, da Pulpo verwischt und fast unleserlich ist.