9. PREIS • 2017 • vincitore sezione inediti

Das Ersatzkind

Daria De Pellegrini • Übersetzungen von Juliana De Angelis

Daria De Pellegrini

Sie wurde 1954 in Falcade geboren und wohnt in Mel, in der Provinz Belluno.
Nach ihrem Abschluss an der Universität Padua hat sie von 1976 bis 2014 Italienisch und Geschichte an technischen Schulen (in den Jahren 2003-2008 an einem deutschen Gymnasium) unterrichtet. Sie ist die Autorin von Romanen (u. A. La locanda dei folli, Campanotto 1994, Fiorenza, Mobydick 2002, Ragazzi nel Bosconero, Mobydick 2002, Navile Città di Bologna-Preis, und Marion, Nuovi Sentieri Editore 2011) und Erzählungen (mit Se fu tuo destino hat sie 1998 den Gran Giallo Città di Cattolica-Preis, mit Una stagione di Margherita im Jahr 2000 den Poesie- und Erzählpreis des Lions Club Milano Duomo 2000, mit Nelle case dei Dorf im Jahr 2005 den Nationalpreis für Kinderliteratur Sardegna gewonnen).
Mit Texten im ladinisch-venetianischen Dialekt ihres Geburtsorts hat sie 2015 die Preise Premio Città di Corridonia und Poesia senza confine in Agugliano gewonnen.
Für den Gedichtband Fare il pane wurde ihr 2016 der Preis Leone di Muggia verliehen. Im April 2017 wurde von „Interno poesia“ die Sammlung Spigoli vivi mit einem Vorwort von Franca Mancinelli veröffentlicht.

BegrÜndung der Jury

In einem kleinen Dorf in Südbayern, unweit der Grenze zu Österreich, haben sich ein deutscher Mann und eine italienische Frau angefreundet, und sie spazieren gelegentlich zusammen in der Natur. Sie ist Italienischlehrerin im Ausland, er ein Fotograf, der in Berlin arbeitet und in seinen Heimatort zurückkehrt, um seine Mutter im Altenheim zu besuchen. Allmählich wird uns das schreckliche Geheimnis offenbart, das den Mann seit der Kindheit begleitet: die Gewissheit, dass seine Eltern ihn nur gezeugt haben, um einen unmittelbar nach Kriegsende auf tragische Weise ums Leben gekommenen Bruder zu ersetzen. Was in dieser Erzählung überzeugt ist vor allem die Kunst der Bündigkeit: Auf wenigen knappen Seiten lässt uns Das Ersatzkind eine Geschichte vorstellen, die einen zweistündigen Film füllen könnte; bemerkenswert ist aber auch die erzählerische Spannung, die sich nach und nach bis zur abschließenden Katastrophe steigert, wo weitere quälende, ernüchternde Elemente zu denen hinzukommen, die sich in den Seiten davor verdichtet hatten.

ErzÄhlung

Obwohl wir keine gemeinsame Geschichte hatten, oder vielleicht gerade deswegen, verstanden wir uns auf Anhieb.
Ich unterrichtete Italienisch in der Stadt im Allgäu, wo er geboren war, und wenn er von Berlin aus hinunterkam, um seine Mutter im Altersheim zu besuchen, fuhren wir gegen Abend hinaus aufs Land. Es befand sich knapp jenseits der Fabriken, in ein schönes Synthetik-Grün gefärbt, wo nicht einmal eine Maus sich den Giften entziehen konnte und die Störche keine Rast mehr einlegten.
Er parkte präzise auf einem der vorgesehenen Plätze, aber jedes Mal musste er, jenes Schwäbisch sprechend, das die Vokale erweitert und umdreht, dem aus dem Nichts auftauchenden Bauern, Mistgabel in der Hand und fest entschlossen, den Zigeuner-Karren mit Berliner Nummernschild zu verjagen, erklären, dass er in der Gegend geboren war, Sohn der Veronika war, die seinerzeit Hebamme gewesen war, und dass er genau dort im dichten Tannenwald, wie er eines Abends hinzufügte, als teile er ein Geheimnis mit, seine alten Wanderschuhe begraben hatte.

Die Mauer, die sich schlängelnd dem wellenförmigen Boden anpasste, ließ lediglich Zipfel von Rosskastanien oder vielleicht Linden erblicken, und ein Kreuz. Im warmen Gras des Sommerabends umherlaufend erreichten wir das Holztor mit der Inschrift „Klausur“. Es waren keine Besuche erlaubt, sagte er mir, zu der Herberge hätten nur die männlichen Verwandten der Mönche Zutritt, aber er sei als junger Mann mehrmals bis ins Innere gedrungen, an der Kirche vorbei, in die Zellen, in denen nicht einmal der römische Papst zugelassen ist: Es sei ihm der Auftrag erteilt worden, die Wunden des ältesten unter den Patres zu pflegen, eines ungarischen Adligen, der zur Zeit von Franz Josef, König und Kaiser, im Krieg gewesen war und der ihm bei der letzten Wundpflege die geheime Qual eines ganzen Lebens anvertraut habe.
Ich blieb mit aufgerissenen Augen in Erwartung. Na, und? fragte ich und wollte auf eine Enthüllung drängen, aber als ich mich umdrehte, sah ich, an den Gitterstäben des Gucklochs klebend, neben der Schrift „Klausur“, ein Gesicht wie das eines alten Kobolds, das zur Stille mahnte. Still gingen wir wieder und erst viel später, nach drei Bieren, berichtete er mir über den Zweifel, der den Ungarn, der Offizier des Kaisers gewesen war, geplagt hatte: Ob alle um das Geschlecht herum behaart sind oder ob nur er vom Teufel so gebrandmarkt worden war.

Meinem Leben, ruhig wie das Wasser eines Teichs, entlockte man keine Erzählung, in seinem hingegen staute sich alles an. Er stotterte, kehrte zurück, um die Silben wieder aufzugreifen und ich, obwohl ich die Wörter verstand, war von der Unsicherheit gelähmt, den Sinn nicht begriffen zu haben und bat ihn: Wiederhole das, bitte. Er wiederholte es. Ich konnte kaum laufen, da grub ich schon Tunnels unter dem geschlossenen Gartentor oder stellte mich tot hinter einem Holzstoß. An einem Sonntag im Zoo in München entriss ich mich der Hand meiner Mutter und suchte Zuflucht im Affenkäfig. Bei Tisch wehrte ich mich weinend gegen Wurst und Leberkäse in der Hoffnung, dass sie, so vieler Undankbarkeit überdrüssig, das tun würden, womit sie immer drohten. Das Waisenhaus lag genau hinter unserem Haus, und alle Kinder spielten zusammen im Hof. Und endlich landete ich dort, sagte er abschließend, am Ort der wohl behüteten Waisen, so war Berlin in den guten alten Jahren der Mauer: eine sichere Insel im feindlichen Meer, man lebte mit wenig, und es gab eine Chance für jeden. Als Fotograf erfand ich mich als Künstler, und die Scherben hielt der Psychoanalytiker zusammen.

Von seinem seit Jahren verstorbenen Vater erzählte er mir nur, dass er schweigsam war, und dass, wenn er redete, es wie gegen Glas geworfene Steine klang: Der Tochter, die sich die Zöpfe abgeschnitten hatte, befahl er, erst mit Haaren wieder aufzutauchen, wie sie sich für eine anständige Frau gehören; sie kam nie wieder zurück, sie zog mit einem Schuster zusammen, der für sie Frau und vier Kinder sitzen ließ. Und Deine Mutter?, fragte ich. Er ließ mich ihre Stimme am Telefon hören, ein unglückliches, wildes Tier in den Tiefen einer Höhle. Er war es, der diese Worte benutzte, und ich, der mir meine Mutter damals keine Sorgen bereitete, schaute ihn wie einen entarteten Sohn an. Meine Mutter… meine Mutter tut weh, sagte er. Tut es ihr weh?! korrigierte ich ihn, er wiederholte Tut weh: Der Nachbar vom oberen Stockwerk trank und versuchte es in der Garage mit den Abgasen seines alten Passats. Aber, was hat das damit zu tun… Was hat das mit Deiner Mutter zu tun, widersprach ich. Seit sie nicht mehr zu Hause ist, trinkt er nicht und züchtet im Garten Rosen. Aber, warum… hakte ich nach, und er sagte, noch stärker stotternd, dass es Zeit sei, Essen zu gehen.

Unter den bunten Glühbirnen eines Biergartens sagte er an einem frischen Abend Anfang Mai gegen Hälfte der Gulasch-Schale: Ich hatte einen Bruder. Ich blickte ihn unsicher an, ich wusste von der Schwester, der mit den abgeschnittenen Zöpfen und dem Schuster. Peter, fuhr er fort, er hieß Peter, er war fünf Jahre alt und ist gestorben wie heute, am ersten Friedenstag. Ich legte den Löffel nieder und schluckte die Worte, während das Gehirn sich allmählich ihrer Bedeutung fügte.
Das Kind hatte am Straßenrand etwas Glitzerndes aufgelesen, das ihm auf der Türschwelle explodierte, vor den Augen seiner Mutter. Der Vater kehrte zu Fuß aus Ungarn zurück, am Tag nach der Beerdigung. Sie verziehen einander nie, sagte er zum Schluss.
Und danach, in der kälter und dunkler gewordenen Luft, kam das, was ich fürchtete.
Sie konnten sich nicht lieben, doch sie zeugten es, ein anderes Kind, das Ersatzkind
Sein erstes Foto erst mit fünf, denn bis dahin gab es ja die Geburtstage und die Kuchen und das Lächeln von Peter in ordentlicher Reihenfolge an der Wohnzimmerwand. Und noch länger blieb in der Schublade das zerfetzte, blutverschmierte Hemdchen, das ihm jeden Sonntag gezeigt wurde, bevor sie Peter besuchen gingen.
Er sagte noch mehr, aber ich erinnere mich nur an den extrem eingedickten Gulasch, an das Entsetzen, als mich die nette Kellnerin fragte, ob ich ihn zum Mitnehmen wolle.

Wenn es stimmt, dass jede Geschichte nach einem zumindest provisorischen Abschluss verlangt, dann soll es hier Kyrill sein. Er war als Sturm des Jahrhunderts angekündigt, die Schulen wurden geschlossen und der Zugverkehr eingestellt, und für alle galt Hausarrest: Der Befehl lautete, nicht aus dem Haus zu gehen. Von meinem siebten Stock aus betrachtete ich bis abends die Tannen, wie sie von einer zunehmenden Masse an vereistem Schnee und Wind gemartert wurden, aber bei Einbrechen der Dunkelheit schlief ich ein, mich durch die deutschen Fenster in Sicherheit fühlend. Am darauf folgenden Tag lagen kaputte Dachziegel auf den Straßen, und man hörte aus Parkanlagen und Gärten das Geräusch von Kettensägen. Dann am Abend erschütterte mich eine Nachricht von ihm, den ich in Berlin wähnte. Zwei Tage später, vor einem blassen Teller mit Hering und Kartoffeln, sagte er mir, dass er die Nacht von Kyrill allein auf der leeren Autobahn verbracht habe: Seine Schwester hätte ihm geraten, bis zum Morgen abzuwarten, aber er sei ohne Zögern losgefahren, der Gefahr dankbar, wodurch alles wie ein Gottesurteil wurde: sechshundertsechzig Kilometer wie mit verbundenen Augen in Erwartung der Bombe, mit der Gewissheit, dass, wenn es so entschieden war, es auch richtig so war.
Aber du hast dich gerettet, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf. Wie eine Maus, erwiderte er, wie eine Maus, die durch Zufall von den engen Zähnen der Dreschmaschine verschont wurde, aber zumindest… Er hielt einen Augenblick inne, während er den Hering zerkleinerte und zog den Schluss: Ich hatte zumindest die Bestätigung.
Wofür hast du eine Bestätigung bekommen?
Dass ich es nicht wert war. Ich habe sie schon tot aufgefunden, auf ihrem Gesicht der gewohnte Ausdruck, verärgert und enttäuscht.

*Anm. d. Ü: In der italienischen Originalfassung bereits auf Deutsch vorhandene Wörter bzw. Ausdrücke sind hier kursiviert.