Seconda edizione 2003 • segnalato prima categoria

Zu Gast

Ingrid Moresco mit Janah Maria Andreis

IL RACCONTO

Noch nie war ich dermaßen im Zentrum der Aufmerksamkeit gewesen. Reporter, die mich filmten, Polizisten, die sich um meine Sicherheit kümmerten, und vor allem viele kreischende Neugierige, die mich anstarrten. Ich hörte eine leise ruhige Stimme die mir zuflüsterte: „Dein Leben ist wertvoll, spring nicht!“ „Wertvoll“ dröhnte es in meinem Kopf, „das ist es schon lange nicht mehr.“ Ich blickte nochmals in die atemberaubende Tiefe. Jetzt konnte mir niemand mehr vorschreiben, was ich tun sollte. ICH hatte die Macht zu entscheiden! Entschlossen rutschte ich nach vorn, immer näher an die Kante, atmete noch einmal tief die kalte Winterluft ein und...

... da, stand es:

Boris Lanse,
geboren 09.04.1958
gestorben 30.11.1997
– Ruhe in Frieden –

Einfach, knapp und nüchtern wurden diese Daten in den nackten Grabstein eingraviert. Keine zuckersüßen Schnulzen wie „Geehrter Ehemann“, „Geliebter Familienvater“, „in liebevoller Erinnerung“ Niemand schien mich zu vermissen! Auf der noch feuchten Erde waren zwei bescheidene Chrysanthemen, wahrscheinlich aus Mitleid, gepflanzt worden.
Eine leise, ruhige Männerstimme unterbrach urplötzlich die eiserne Stille des Friedhofes.
„ Warum bist du gesprungen, warum habe ich dich nicht retten können?“

Mich schauderte es, denn mir war diese Stimme nicht fremd. Es war derselbe Kerl der mich vom Springen abhalten wollte. Wut überfiel mich. Wieso interessierte er sich für meinen Selbstmord? Sicherlich besitzt er viel Geld, eine liebevolle Familie, die zu Hause auf ihn wartet und Geborgenheit spendet und viele gute Freunde um Spaß im trüben Leben zu haben.
Warum machte er sich Vorwürfe, es war allein MEINE Entscheidung, diese Grenze zu überschreiten! Und es war gut so...
Ich wollte ihm sagen, dass er sich von den Gewissensbissen nicht plagen lassen sollte und dass es mir gut ginge. Ich blickte mich um und... er war verschwunden.

An seiner Stelle stand nun eine junge, gutaussehende Frau, wahrscheinlich Mitte zwanzig. Sie weinte. Heulte dieses Fräulein etwa für mich? Das war unmöglich ich kannte sie ja gar nicht. Schluchzend murmelte sie einige Sätze: „Wie konntest du nur so blöd sein, und etwas derartig Wertvolles wegwerfen!“ Ich war verdutzt: Wie konnte mir diese Frau unterstellen, etwas Wertvolles weggeworfen zu haben, wo ich mein ganzes Leben lang nichts kostbares besessen habe?! Doch erst jetzt begann ich zu verstehen, dass sie nicht aus Mitleid, sondern aus Wut weinte. Ich lauschte ihr zu und hörte sie wieder klagen: „Ich kämpfe nun seit Jahren gegen meine Krankheit, die mich Tag für Tag schwächt. Dennoch ist jeder neue Tag ein Geschenk des Himmels, du aber warst ein Feigling. Du aber hast dein Dasein einfach aufgegeben. Das Leben ist einfach ungerecht!

Mit diesen Worten verließ sie den Friedhof. Mein Stolz, gestorben zu sein, war verschwunden. Ich war vom Lebenswillen dieser Frau überwältigt.

Mir wurde erst jetzt klar, dass ich einen unverzeihlich großen Fehler gemacht hätte, wenn ich von der Brücke gesprungen wäre. Es gab noch einen Ausweg, denn das Werk war noch nicht vollbracht...
Ich atmete zum zweiten Mal die kalte Winterluft ein und entfernte mich langsam von der gefährlichen, todbringenden Kante, meiner Grenze zwischen Leben und Tod.
Ein ohrenbetäubender Applaus überfiel mich, als ich geschockt und unsicher ins Reich der Lebenden zurückkehrte.
„ Denselben stürmischen Beifall haben Sie sich auch heute hier bei „Foligno’s Talkshow“ verdient. Ich bitte um einen Applaus für Herr Boris Lanse, der so freundlich war, uns seine dramatische Geschichte zu erzählen. Aber noch mal zu Ihnen: Hat sich Ihr Leben seit diesem Erlebnis verändert?“

Ich denke kurz nach und antworte sicher: „Ich bin wirklich froh, dass ich die Grenze ins Jenseits nicht überschritten habe; der Tagtraum auf der Brücke hat dazu beigetragen, dass ich meine Einstellung zum Leben ändere und erweckte erneut meinen Lebensgeist. Es gibt zwar immer noch Tage, an denen ich seelisch am Boden bin, aber die Arbeit mit Krebskranken und Leuten mit psychischen Problemen haben meiner Existenz Sinn gegeben und helfen mir, meine Ängste zu überwinden.

Ich bin heute der Meinung, dass diese Grenze nur einmal überschreitbar ist und dass es in diesem Fall kein Zurück mehr gibt. Es ist besser, wenn eine überirdische Macht die Todesstunde jeder einzelnen Person bestimmt.“
Genau in diesem Moment fühlte ich mich stolzer denn je.